– Geleitwort zu den Biographien – Europa, hast du es besser ?
»Ich glaube nicht, dass Du weit kommst, wenn du von Beginn an die Vergangenheit verleugnest oder sie ablehnst.
– I do not believe that you can go far if you start by denying or opposing the past.« (Pablo Veron)
Julio & Francisco de Caro Auch wenn die Musik des Orchesters de Caro eher selten an Milongas zu hören ist, so waren die de Caros zu ihrer Zeit äusserst beliebt und sehr einflussreich. Der Vater der Gebrüder de Caro war Leiter der Musikakademie am Teatro Scala de Milano gewesen. Als der Vater hörte, dass seine Söhne, statt klassischer Musik diese seltsame Musik der Unterschicht, den Tango spielen wollten, warf er sie aus dem Elternhaus. Vielleicht wollten die Söhne es ihrem Vater zeigen, dass Tango-Musik so komplex wie klassische Musik sein konnte und wollten den Tango auf ein neues Niveau heben. Die Musiker mussten die komplexen Arrangements (im Vergleich zu anderen Orchester jener Zeit) unheimlich viel üben. Das de Caro-Orchester führte einige neue Spieltechniken ein – spätere Orchester übernahmen sie. Pugliese brachte seine Komposition Recuerdo ein, die das Orchester 1926 aufnahm. Als Pugliese sein eigenes Orchester hatte, erwiderte er das Kompliment mit der Aufnahme verschiedener de Caro-Titel.
Roberto Firpo war nach Canaro derjenige Orchesterleiter mit den meisten Aufnahmen (laut M. Lavocah mehr als 2000 Schallplattenaufnahmen, wobei der grössere Teil noch mit der akustischen Aufnahmetechnik gemacht wurde). Seine erste Aufnahme machte er bereits 1913 bei Odeon-Nacional, kurz nachdem er bei einem Wettbewerb einen Preis gewonnen hatte. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Alma de bohemio, El amanacer und Fuegos artificiales. Mit Roberto Firpo wurde das Klavier das führende Instrument im Tango. Um 1913 kam der Kontrabass dazu, der das Klavier rhythmisch unterstützte. In der Folge bildete sich das ›Sexteto tipico‹: Klavier, Kontrabass, zwei Geigen und zwei Bandoneons. Diese Entwicklung im Instrumentarium führte dazu, dass die Tango-Ensembles, die früher mit Flöte und Gitarre unterwegs waren, nicht mehr so beweglich waren, weil sie an Orte mit einem Klavier gebunden waren. Der oft angefeindete Tango der Arrabales (Vororte) zog mehr und mehr in die Stadt. Firpo, der in den frühen Zeiten des Tango ein Innovator war mit grossem kommerziellen Erfolg, wurde von den neuen Entwicklungen im Tango überholt. Firpo ist recht selten an den Milongas zu hören. Aber das liegt auch daran, dass die interessanteren Aufnahmen seines Orchesters auf CD selten zu finden sind (die weniger interessanten Quartett-Aufnahmen hingegen schon).
.
Michael KI, im Juni 2020
Zum Bild mit den Orchesterleitern (v.l.n.r):
Edgardo Donato; Carlos di Sarli; unbekannt; Anibal Troilo; Julio de Caro; Osvaldo Fresedo; Ricardo Tanturi; unbekannt; unbekannt.
Ein Geleitwort zu den Musikerbiografien
Musik zu beschreiben ist schwer. Es fehlt uns irgendwie der richtige Wortschatz. In einem Gespräch sagte ein bekannter (Jazz-) Musiker, dass es keine Musiksprache gibt, sondern dass wir immer mit Vergleichen arbeiten müssen. Zudem ist Musik etwas Subjektives. Aber auch wenn es nicht leicht ist, so wollen wir es trotzdem versuchen und auf diese und jene Besonderheit und Charakteristik hinweisen.
Aus einer Besprechung (bei der mir trotz der vielen Worte einiges unverständlich bleibt): »Denn indem die Bandoneons und Geigen in fein arrangierten Mustern aus der Instrumentalgruppe ein- und aussteigen, filigrane Akzente setzen, winzigkleine Soli unterjubeln, gemeinsam verzögern oder dynamische Wellen gestalten, erzählen sie mit knappsten Mitteln in luftiger Musikalität das Wesen dieser Komposition.« **
Nach längerem Kopfkratzen und vielen Mutmassungen würde ich doch noch gerne wissen, was denn ›winzig kleine Soli‹ sein sollen…? Oder wie Instrumente wie Bandoneon und Geige 'aus der Instrumentalgruppe aussteigen’ können? Da ich nicht die ausgefallene Begabung habe, solch wunderlich-rätselhafte Sätze zu drechseln, verweise ich lieber gezielt auf Hörbeispiele, um den musikalischen Charakter und die Besonderheiten eines Orchesters zu veranschaulichen.
Wer aus eigener Kraft herausfinden sollte, welches Stück oder welches Orchester mit dieser Beschreibung gemeint sein könnte, gewinnt ein Wochenende – bei sich zu Hause.
Ich habe versucht, die Biografien auf das Wesentliche zu beschränken, aber trotzdem etwas Typisches aus dem Leben der Musiker zu erzählen, damit die Personen etwas an Leben und an Charakter gewinnen. Wie ich in der Einleitung schon angemerkt habe, ist die Quellenlage nicht allzu gut und leider auch immer wieder mal widersprüchlich. Bei früheren Rezensenten einfach abzuschreiben und quellenunkritisch bisherige Meinungen zu wiederholen, hat mir widerstrebt – auch wenn ich mir dadurch einiges an Mühe und Zeit erspart hätte. Es gibt schon genug ‘Legenden‘ und Behauptungen, die sich bei genauerem Hinschauen als nicht real herausstellen. Nach dem Motto ›Wer trumpft mit der höheren Zahl auf‹ behauptete 2001 ein französischer Musikethnologie-Professor, Ende der 40er Jahre habe es in Buenos Aires die Zahl von 600 Orchestern gegeben. Nun, in diesem Buch finden sich mehrere schwerwiegende Fehler. Aber diese fantastische Zahl wurde trotzdem immer wieder gutgläubig und unhinterfragt herumgereicht, so dass aus dieser ungeprüften Sekundär- bzw. Tertiärquelle durch viele Wiederholungen in verschiedenen Publikationen eine kaum angezweifelte Legende wurde. »Wie allgemein bekannt gab es in Bs As Ende der 40er Jahre 600 Orchester...«
Wir sollten nicht einfach jede Zahl, jede nachträgliche Dramatisierung einfach so übernehmen, nur weil sie uns vielleicht gefällt. Was wir heute festhalten – darauf werden sich zukünftige Generationen stützen müssen. Was wir heute anhand von Zeitzeugen und der Quellenlage noch aufschreiben können, ist vielleicht in wenigen Jahren schon verschwunden. Ein Freund aus Argentinien erzählte mir im Februar 2022: »Corona ist ein Desaster für die Tangoszene. Die alten Leute kommen nicht mehr, viele Milongas sind kaputt gegangen.«
Michael KI im März 2022
** gefunden in Tangodanza Nr. 2/21 S. 13
Europa – hast du es besser?
2019 hatte ich in Italien ein aufschlussreiches Gespräch mit einem älteren Tango-DJ aus Buenos Aires. Mir war bekannt, dass im Gegensatz zu Europa gewisse Orchester in Buenos Aires viel weniger gespielt werden. Und so nahm ich die Gelegenheit und fragte: »Hier in Europa ist das Orchester von Edgardo Donato sehr beliebt. Wie ist das in Buenos Aires?« – »Höchstens eine Tanda, und dann ganz am Anfang.« Ich fragte weiter nach Enrique Rodriguez, nach Alfredo de Angelis, nach Canaro und Juan d‘Arienzo, was die gängige Meinung über diese Orchester in Buenos Aires sei.
Hier in Europa ist zum Beispiel das Orchester von Enrique Rodriguez beliebt: Gute Musik, gefällig und solide arrangiert, bestens geeignet für entspanntes Tanzen. Eine grundlegende Fröhlichkeit, die aus seinen Kompositionen spricht. Seine vergnüglichen Foxtrotts, auf die man Milonga tanzen kann und die einen Abend beleben können. Ja, Rodriguez hat nicht die Komplexität eines Troilo oder das Raffinement von Caló – das will niemand bestreiten. Aber deswegen Rodriguez nicht zu spielen, kommt uns hier in Europa nicht in den Sinn. Interessant – die meisten CDs von Rodriguez kamen hier in Europa heraus (als erste die ›Otros Ritmos‹), und von hier aus gab es erst, so wurde mir gesagt, eine entsprechende Rückkopplung nach Argentinien.
Hier in Europa haben wir es meiner Meinung nach besser, weil wir unbefangener an diese Musikgattung herantreten können. Mir scheint, dass in Argentinien sich gewisse Beurteilungen festgesetzt haben, die wir hier in Europa manchmal mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Ich bin nicht der Einzige, der über manch etablierte Urteile verwundert ist, man spürt diese Verwunderung auch immer wieder in den Büchern von Michael Lavocah.
In meinen Besprechungen habe ich ab und zu die Beurteilungen aus Buenos Aires zitiert, zum Beispiel die des Hofchronisten bei Todotango, Julio Nudler, bei denen ich mir manchmal verwundert die Augen gerieben habe. Zum Beispiel bei seinen Bemerkungen zum Orchester von → Ricardo Tanturi. Aber jeder meiner Leser möge anhand der Musikbeispiele sich selbst ein Urteil bilden.
Traditionalismus?
Ja, ich gebe gerne zu – ich bin jemand, der die Musik aus der Epoca de Oro besonders schätzt. Ich bewundere die grosse Vielfalt dieser Musik, die Art, wie die musikalischen Einfälle in kunstfertige Arrangements umgesetzt wurden, und wie innerhalb der Melodieführung auf äusserst geschickte Art Rhythmus erzeugt wird, und das ohne Schlagzeug oder andere gebräuchliche Rhythmusinstrumente – und dabei alles bestens tanzbar! Für mich ist das ein ausserordentlich beeindruckender Schöpfergeist. Eine musikalische Glanzleistung, die nach dem Niedergang nicht mehr erreicht worden ist.
Und ja – ich organisiere die Musik in Tandas mit Cortinas. Nicht etwa, ›weil es in Buenos Aires so gemacht wird‹, sondern weil es sich als die angenehmste Art zu tanzen herausgestellt hat. Insofern kann man mich vielleicht als ›Traditionalisten‹ bezeichnen. Aber trotzdem lehne ich das Wort ‘Traditionalist‘ ab, denn ich bin nicht jemand, der unbesehen eine ‘Tradition‘ übernimmt. Man muss nicht alles nachmachen, nur weil behauptet wird, dass ›es in Buenos Aires so gemacht wird‹. Abgesehen davon, dass sich alles erst über die Zeit entwickelt hat – Tango und wie man ihn tanzte war nie etwas Starres. Das Festschreiben einer gewissen Tradition (und das Pochen darauf) darf man immer hinterfragen – z.B. Warum gerade die Gepflogenheiten eines bestimmten Zeitabschnitts zur Tradition erhoben wurden?
Tango ohne die Wertschätzung im Ausland?
Und wieder einmal sei die Frage erlaubt, ob der Tango hätte überleben können ohne die Anerkennung im Ausland? Ist das Ansehen des Tango im eigenen Land nicht erst durch die Wertschätzung im Ausland gestiegen?
Eine weitere Anmerkung, die bereits von anderer Seite gemacht wurde: Da ist vielleicht das grösste Kulturgut, das Argentinien je hervorgebracht hat – aber wie geht es damit um? Welche Wertschätzung ist es, wenn wertvolle Schellack-Masters ohne zwingende Notwendigkeit vernichtet werden? Wurden die besten Digitalisierungen und Transfers auf CD in Argentinien gemacht? Nein, es waren zuerst japanische Sammler, die gut erhaltene Schellackplatten rechtzeitig gerettet und nach Japan gebracht und in sauberer Qualität transferiert haben. Warum sind entsprechende Projekte einer Sammlung dieses Kulturguts und deren Digitalisierung von den argentinischen Kulturbehörden nicht unterstützt worden? Die Frage sei erlaubt: Sieht Wertschätzung nicht anders aus?
Eine gewisse Distanz hat seine Vorteile. Vielleicht können wir durch diese Distanz eher erkennen, dass diese Musik etwas Besonderes ist, als wenn sie einfach so da wäre. Ja – wir lieben diese faszinierende Musik. Auf unsere Art und Weise. Es ist nicht besser, aber sicher auch nicht schlechter, wenn wir in Europa z.B. das Orchester von Edgardo Donato mehr schätzen als es in Argentinien geschätzt wird. Und die Qualität unserer Wertschätzung ist nicht unbedingt davon abhängig, ob alle wissen, dass Troilo den Vornamen Anibal (gefälligst mit einem Betonungszeichen auf dem i) und den Übernamen Pichuco hatte.
Ja – ich meine, Europa, du hast es besser. Wir können unbefangener an die Musik herangehen und sie als etwas selten Schönes wertschätzen.
Michael KI, im September 2020