Angel d‘Agostino (1900 - 1991)

Angel Domingo Emilio d‘Agostino wuchs in einer Familie der Oberschicht in sicheren Verhältnissen auf, und so konnte er es sich leisten, ohne Risiko das Gymnasium abzubrechen. Stattdessen widmete er sich lieber seinen Hobbies, u.a. dem Pokerspiel (im High Society-Club del Progreso), führte das Leben eines Bohemiens oder Dandys und war ein guter Pianist und Tango-Tänzer.

Angel d‘Agostino und der Sänger Angel Vargas hatten eine der längstdauernden Partnerschaften in der Tango-Geschichte – kein anderes Orchester wurde so eng mit dem Sänger in Verbindung gebracht. Oft wurden die beiden in einem Atemzug genannt: d‘Agostino-Vargas. Von 1940 bis 1946 nahmen sie zusammen 94 Titel auf, in dieser Zeit spielte das Orchester nur sieben Instrumentaltangos ein, was die Bedeutung zeigt, die sein Sänger für d‘Agostino hatte. Bald bekamen sie aufgrund der gleichen Vornamen die Bezeichnung 'Los dos Angeles – die beiden Engel'. In Anspielung an diesen Übernamen wurden vier CDs Tangos de los Angeles Vol. 1 - 4  herausgebracht (erschienen bei BMT in der Reihe Tango Argentino). Zu d‘Agostinos eigenen Kompositionen (zusammen mit Alfredo Attadia) gehören das oft gehörte Tres equinas, Cantando olvidaré, El Cocherito sowie das 1955 eingespielte Café Dominguez.

D'Agostino war lange befreundet mit dem Dichter Enrique Cadícamo, und beide waren überzeugte Junggesellen, Angel mit viel Wirkung auf die Damenwelt. Als Cadícamo in einer Art von Midlife-Krise eine deutlich jüngere Frau heiratete, betrachtete d‘Agostino das als Verrat an den Prinzipien und soll von da an kein Wort mehr mit seinem langjährigem Freund gesprochen haben. 


Angel d‘Agostino wurde in eine musikliebende Familie hineingeboren, sein Vater war ein klassisch ausgebildeter Pianist. Tango-Musiker und -Komponisten besuchten regelmässig das Haus der bessergestellten Familie. Alfredo Bevilacqua stellte seine Komposition Independencia vor der Veröffentlichung im Haus der Agostinos vor. Ein paar Jahre später wurde diese Komposition von Juan Maglio aufgenommen, und Jahrzehnte später machte d‘Arienzo es zum grossen Erfolg. Der junge Angel bekam das Notenblatt von Independencia und intonierte die Komposition als Achtjähriger (!) unter grossem Applaus der Anwesenden am Klavier. Bald galt er als Wunderkind und spielte oft vor Publikum der besseren Gesellschaft. 

Lassen wir d‘Agostino selbst zu Worte kommen - die kursiven Einschübe sind die Worte von Angel aus seinen später gemachten ‘Confesiones‘ (in welchem Jahr diese ‘Confesiones‘ aufgeschrieben wurden, ist nicht bekannt. → Hier das spanische Original, deutsche Übersetzung vom Verfasser gemäss der englischen Version.) 

Mit elf Jahren lernte er Juan d‘Arienzo kennen, mit 15 Roberto Firpo. 

Es war 1915, und Roberto Firpo wohnte neben Armani [ein befreundeter Jazzmusiker von A.],
so dass ich mit ihm und mit anderen Musikern bekannt wurde.

Mit 20 Jahren gründete Alfredo sein eigenes Orchester in Buenos Aires. 

Am 15. März 1920 gründete ich mein erstes Orchester als Erwachsener. Wir spielten Tango und Jazz,
denn mit nur einer Sache konnte man nicht leben.« 

Sein Orchester war erfolgreich, weshalb man ihm 1921 nahelegte, nach Paris zu reisen.

»Unser Erfolg war so gross, dass mir 1921, während meiner Zeit am Royal Pigalle und am Teatro Ópera,
ein Vertrag angeboten wurde, nach Paris zu gehen. Ich lehnte ab, weil ich hier bleiben wollte.«

1925 war er, zusammen mit seinem Violine spielenden Freund Juan d‘Arienzo Teil des Orquesta Tipica Paramount, das im gleichnamigen Kino auftrat. 

‍    Im Jahr 1928 gründete ich mein Orchester zusammen mit dem Geiger Alfredo Mazzeo.
Im folgenden Jahr hatte ich mein Debüt bei Radio Prieto. In dieser Radiosendung lud ich wöchentlich
einen Musiker ein, sein Instrument zu spielen. Dort trafen sich Francisco Fiorentino und Aníbal Troilo.

1932 lernte er José Angel Lomio kennen, der später als Sänger unter dem Künstlernamen Angel Vargas bekannt werden sollte. Vargas war, ganz im Gegensatz zu d‘Agostino, Kind einer armen italienischstämmigen Einwandererfamilie und musste in einer riesengrossen Fleischfabrik im Hafenviertel für seinen Lebensunterhalt schuften

.. Ich stellte ihn 1932 im Ciné Florida vor. Dort traten wir zusammen mit Libertad Lamarque und Casimiro Ain auf. 

Die beiden verfolgten danach verschiedene Wege. Vargas machte seine erste Aufnahmen 1938 und 1939 beim → OTV, unter anderen den schönen Vals Sin rumbo fijo. Die beiden kamen erst 1940 wieder zusammen. 

1935 war der junge Troilo (nachdem er das Sexteto Vardaro erlassen hatte) für kurze Zeit Teil des Orchesters von d‘Agostino. 1936 bekam d‘Agostino einen Kontrakt im Cabaret Chantecler, wo Juan d‘Arienzo regelmässig auftrat. Dort machte d‘Agostino den Sänger Alberto Echagüe mit d‘Arienzo bekannt, und so kam es zu der fruchtbaren Partnerschaft von d‘Arienzo mit Echagüe.

1935 hatten die Besitzer der Zeitung El Mundo den Entschluss gefasst, in das immer populärer werdende Medium Radio zu investieren. Sie bauten nach dem Vorbild der BBC London ein Rundfunkgebäude mit verschiedenen Studios. Der Sender war zu Beginn nicht sonderlich erfolgreich, aber der neue Programmdirektor Pablo Valle, der nach zwei Wochen das Ruder übernommen hatte, setzte auf Jazz und auf Tango, und in kürzester Zeit wurde die Radiostation mit dem Kürzel LR1 eine der bekanntesten im ganzen Land. Valle lud d‘Agostino 1940 ein, bei ihm zu spielen, und dieser ergriff die Gelegenheit sofort. Mit dieser Bekanntheit konnte sich d‘Agostino kurz danach einen begehrten Schallplattenvertrag sichern. 

Seine erste Schallplattenaufnahme bei RCA Victor waren im November 1940 die beiden Tangos No aflojés und Muchacho (eine Komposition von Edgardo Donato) mit Angel Vargas. Muchacho ist unter Einfluss des dynamischen Donato einer der wenigen schneller gespielten Tangos bei d‘Agostino. In den folgenden Jahren wurde die Gangart erkennbar gemächlicher. D‘Agostino nahm diese beiden Tangos 1953 und ‘54 nochmal auf.


Das Orchester von Angel d‘Agostino war ein reines Tango-Orchester – bei seinen 142 Schallplattenaufnahmen bis 1963 finden wir keine ‘otros ritmos‘ wie Foxtrot, Polca, Pasodoble usw. wie bei manch anderem Orchester, sondern fast nur Tangos und recht wenige Valses und Milongas. Bei den Milongas ragt En lo de Laura (1943) heraus.

D'Agostino ging mit seinem Orchester nie auf Tournee, obwohl es dafür immer wieder Einladungen gab. Laut J. Bieler war der Grund, dass ›ein Dandy seinen Wirkungsbereich, ausser vielleicht zur Sommerfrische, nur verlässt, wenn er unbedingt muss. Ohne Präsenz keine Wahrnehmung, ohne Wahrnehmung keine Distinktion.‹


Angel d‘Agostino führte sein Orchester vom Klavier aus. Der erste Bandoneonist bis 1943 war Alfredo Attadía, er war Teil des Paramount-Orchesters gewesen und stiess 1939 zum Orchester; er war auch für die Arrangements verantwortlich. Attadía hatte bereits beim jungen de Angelis und bei Troilo gespielt und war Teil von Biagis erstem Orchester gewesen. Er war Mitautor der Kompositionen Tres Esquinas, El Cocherito und anderer Titel. Ein weiterer herausragender  Bandoneon-Spieler war Miguel Bonano, eine Berühmtheit in der damaligen Tango-Welt, der in den Orchestern von Donato, Demare, Biagi und anderen gespielt hatte, bevor er dem Orchester von d‘Agostino beitrat. Das Orchester von Angel d‘Agostino hatte viel Erfolg und konnte bis Mitte 1943 49 Titel auf Platte aufnehmen.


Im Juni 1943 kam es zum grossen Zerwürfnis. Wie so oft war das liebe Geld im Spiel, es ging um eine Anhebung von 15 auf 17 Pesos bei Plattenaufnahmen. Julio Nudler: »Damals bekamen die Spieler jeweils ein paar Pesos für eine Schallplattenaufnahme und hatten danach kein Anrecht auf mehr, unabhängig vom Erfolg dieser Aufnahme und dem Geschäft, das andere mit den Platten machten.« D‘Agostino lehnte die geringfügige Gehaltserhöhung ab, daraufhin verliess ihn das gesamte Orchester inklusive Vargas. So etwas war bereits 1940 bei d‘Arienzo passiert, dieser hatte das Riesenglück gehabt, dass er das Orchester von Varela kurzfristig engagieren und seine Aufnahmetätigkeit weiterführen konnte. Warum Angel d‘Agostino es auf einen so gefährlichen Bruch ankommen liess? – Wir wissen es nicht. War es der Dünkel eines Reichen, der sich aufgrund seines Reichtums oder seiner Stellung in der Gesellschaft automatisch im Recht fühlte? Es ist zu vermuten, dass es ein angekündigter Konflikt war, und dass D‘Agostino ‘vorgesorgt‘ hatte. Jedenfalls fällt auf, in welch kurzer Zeit d‘Agostino ein neues Orchester zusammenstellen und wieder ins Aufnahmestudio gehen konnte.  

Im gleichen Jahr hatte Alberto Castillo das Orchester von Tanturi verlassen und hatte es geschafft, seine Karriere erfolgreich weiterzuführen. Vargas beauftragte Attadía mit der Leitung des ‘neuen‘ Orchesters, das ‘sein‘ Orchester werden sollte. Aber das Orchester hatte, trotz des bekannten Sängers, nicht den gewünschten Erfolg. Zum Entsetzen der übrigen Orchestermitglieder kehrte Vargas nach nur wenigen Monaten zu d‘Agostino zurück. Julio Nudler: »Der Rest der Jungs blieb im Regen, .. empört über diesen Engel, der sich in einen Dämon des Verrats verwandelt hatte.« Attadía zog später nach Montevideo und führte dort seine Musikerkarriere weiter. Trotz des Bruches steuerte Attadía auch in den kommenden Jahren einige Kompositionen bei, wie z.B. El cocherito.


Der Arrangeur des neuen Orchesters war der erste Bandoneonist Eduardo del Piano. Die erste Aufnahme war bereits im August 1943 – ein erstaunlich kurzer Unterbruch in der Aufnahmetätigkeit nach dem kompletten Musikerwechsel. Das neue Orchester führte den bisherigen sparsam-sanften Stil überraschend nahtlos weiter; einen Stilwechsel wie bei d‘Arienzo nach 1940 kann ich nicht erkennen. 

In der Zeit bis zur Rückkehr von Vargas machte d‘Agostino drei Aufnahmen mit dem Sänger Raul Aldao, der meiner Meinung seine Sache gut macht (wenn auch nicht ganz so gut wie Vargas). Die Aufnahmen sind hörenswert, werden aber recht selten gespielt. 

→ A las siete en el cafe - Um sieben im Café 08/1943 mit Raúl Aldao (nach langem Suchen konnte ich doch noch eine klanglich zufriedenstellende Version auf YT finden). Auch wenn diese Interpretation gut ist, so wird sie doch von der sieben Monate früher erschienenen von → Miguel Calo mit Jorge Ortiz übertroffen.  Ebenfalls hörenswert ist → Y te dejé partir.

Dass es nur zu drei Aufnahmen kam, ist seltsam, denn normalerweise braucht es für eine Platte für Vorder- und Rückseite immer zwei Aufnahmen. Folglich wären vier Titel naheliegend. Was der Hintergrund dafür ist? Hatte der Sänger, oder vielleicht auch das neue Orchester, nicht die Zeit, einen vierten Titel in genügender Perfektion einzuüben? Jedenfalls werden in der mir vorliegenden Discographie für den 10.8.1943 nur drei aufgenommene Titel geführt.

Als Angel Vargas zurückkam, ging der Erfolg von d‘Agostinos Orchester weiter. Einen Monat später erscheint die nächste Platte bereits wieder mit Angel Vargas und den Titeln → Qué lento corre el tren, eine Komposition von Alfredo de Angelis, und Un tango argentino


Bis September 1946 spielten ›Los Angeles‹ zusammen 94 Aufnahmen ein.


Die Charakteristiken von Angel d‘Agostinos Musik 

Anstatt Einschätzungen von bisherigen Rezensionisten zu wiederholen, hören wir am besten unvoreingenommen hinein in d‘Agostinos Musik. Um die Besonderheiten seines Stils erkennen zu können, hilft der Vergleich seiner Interpretationen mit denen anderer Orchester (in zeitlicher Reihenfolge).


Ahora no me conocésJetzt kennst Du mich nicht mehr 

Diese Komposition mit (an-)klagendem Herzschmerztext war ein beliebter Titel und wurde 1941 kurz hintereinander aufgenommen: im September von Libertad Lamarque, das Orchester von → Angel d‘Agostino (mit Angel Vargas) folgte nur vier Tage später. Nur etwa zwei Wochen später ging → Rodolfo Biagi (mit Jorge Ortiz) ins Aufnahmestudio.


→ Tomo y obligo (ein schwer zu übersetzender Titel, in etwa ‘Ich trinke und lade ein‘)   D‘Agostino nahm das von Carlos Gardel komponierte Stück mit Vargas 1943 auf. Dies war die letzte Aufnahme mit dem ursprünglichen Orchester – danach verliessen alle Musiker inkl. Vargas Angel d‘Agostino. 

1946 folgte eine sehr ansprechende Interpretation mit → Francisco Fiorentino, nachdem er sich von Troilo getrennt hatte. (Leider sind viele Versionen auf YouTube ziemlich verquietscht - die verlinkte ist eine der besseren).

Als geschichtliche Fussnote sei die Zack-Zack-Interpretation (mit Schlagzeug und Akkordeon) eines deutschen Orchesters unter der Leitung von Barnabas von Géczy erwähnt. BvG, ein Ungar, dienerte sich zum Günstling der Nazi-Machthaber hoch und bezog ein exorbitantes Gehalt, während Dajos Béla, ebenfalls Ungar, aber mit jüdischer Verwandtschaft, von den Nazis als ‘Puszta-Lümmel‘ und ‘Hyäne des Rundfunks‘ beschimpft und vertrieben wurde und über Umwegen sich nach Argentinien retten konnte. Interessant, dass diese Aufnahme den Weg nach Japan fand und in Tokio von Nippon Telefunken vertrieben wurde. Die   genaueren Umstände sind mir nicht bekannt und werden wohl immer im Dunkel der Tango-Geschichte verbleiben. 


De igual a igual - von gleich zu gleich

Alfredo de Angelis nahm diesen Tango 1944 als erster auf. 1945 folgten Lomuto (mit Carlos Galarce), sieben Monate später im November die Interpretation von → Angel d‘Agostino mit Vargas. Hier zum Vergleich die Version von → de Angelis (mit Julio Martel und Glosa) in einer akustisch guten Version; die Versionen von de Angelis und d‘Agostino gefallen mir beide gut, wobei ich der de Angelis-Version den Vorzug gebe. 1971 nahm de Angelis dieses Stück noch einmal in einer interessanten Version auf. 


Madreselva Geissblatt

Dieser Tango entstand ursprünglich als Instrumentaltango, komponiert von F. Canaro. Später kam die Lyrik dazu. 1931 wurde der Titel von Canaro mit Carlos Gardel aufgenommen. Es folgten 1938 Libertad Lamarque und → Francisco Lomuto (mit Jorge Omar), der ihn drei Monate später aufnahm. Im November 1938 folgte erneut Lomutos Freund Canaro (mit Roberto Maida).

→ Die Interpretation von d‘Agostino-Vargas wurde im Dezember 1944 aufgenommen.
    Canaro nahm das Stück nochmal 1951 mit Mario Alonso auf, aber diese Version reicht nicht an die von d‘Agostino und Lomuto heran.
Der Text wurde, dem Titel angepasst, zur botanisch-romantischen Allegorie ohne allzu grossen Tiefgang mit einem Schuss tangotypischer Enttäuschung (Text mit englischer Übersetzung bei der Lomuto-Version).

Shusheta -  El aristocrata  

Dieser Tango entstand in den frühen zwanziger Jahren. Später dichtete Enrique Cadícamo die Lyrik dazu. Shusheta ist ein Lunfardo-Ausdruck, abgeleitet vom genuesischen Sciuscetto mit der Bedeutung von ‘Spitzel‘. Im Lunfardo hat es die Bedeutung von Dandy, Schnösel, Geck. Im Tango Asi se baila el Tango kommt das Wort auch vor und wird dort meistens mit Schnösel oder feiner Pinkel übersetzt. Es überrascht nicht, dass d‘Agostino sich dieses Tangos annahm, denn auch er lebte das Leben eines Dandys und Frauenverführers. 

Wir haben die Möglichkeit, d‘Agostinos Interpretation mit einer anderen guten Aufnahme zu vergleichen, die 1940 herauskam: die von → Carlos di Sarli. (Hinweis: alle di Sarli-Versionen auf YT sind zu schnell überspielt. Wer die Version in korrektem Tempo hören will, muss sich die Version von TangoTunes kaufen). Di Sarlis Instrumentalversion kommt dynamisch und druckvoll daher, man kann sich den Shusheta vorstellen, wie er mit seinem Gehstock über die Florida-Strasse stolziert und sich umschaut, ob er auch gesehen wird.

Als die konservative Militärregierung Lunfardo-Ausdrücke und ‘moralisch bedenkliche‘ Wörter verbot, musste Cadícamo die ursprüngliche Lyrik, die von einem abgehalfterten, in die Jahre gekommenen Shusheta handelt, umschreiben. Aus Shusheta wurde El Aristócrata. Da di Sarlis Version als Instrumentaltango aufgenommen wurde, musste die Plattenfirma nach dem Lunfardo-Erlass nur den Titel ändern. 

→ D‘Agostinos Version von 1945 kommt im bekannten gemächlichen Tempo daher, die verharmloste Lyrik ohne allzu grossen Tiefgang wird von seinem Stammsänger Angel Vargas interpretiert.

‍        Toda la calle Florida lo vio 

‍          con sus polainas, galera y bastón.

‍          Apellido distinguido, gran señor en las reuniones, 

‍          por las damas suspiraba 

‍          y conquistaba sus corazones.


Ich schrieb bereits in einem meiner ersten Tango-Beiträge über die Musik in der Epoca de Oro: »Grossartige Musik, kleine Kunstwerke, in drei Minuten gepackt und in dieser kurzen Zeit ideenreich entwickelt – aus diesem Ideenreichtum hätte mancher Komponist eine symphonische Dichtung komponiert…« Diese Periode explodierte förmlich vor Kreativität, die verschiedenen Orchester wollten einander übertreffen, die Arrangeure und Komponisten setzten ihren ganzen Erfindungsreichtum ein, um die Konkurrenz im musikalischen Wettstreit zu überbieten. Wenn man genauer hineinhört, findet man in fast jedem Stück viele solcher kleinen, musikalischen, z.T. genialen Einfälle. 

Ich möchte deine Aufmerksamkeit auf ein paar Stellen in diesem Stück lenken: Beim Übergang zur folgenden Phrase bei 0.27, wo man mehr erwartet, werden nur zwei knappe Klavier-Akkorde kurz hingespritzt; ab 0.41 besticht d‘Agostino mit einem kurzen, brillant und überraschungsreich gespielten Solo, nach einem kurzen Orchestereinsatz folgt bei 0.49 gleich ein zweites. Während Vargas singt, akzentuiert bei 1.51 das Orchester synkopierend; bei ca 2.09 zeigt sich schön, mit welchem Können Vargas den Text interpretiert, wie Orchester und Sänger miteinander spielen und einander ergänzen, und wie in dieser kurzen Passage im Arrangement mehrere kleine Überraschungen verpackt sind. Bei 2.12 hören wir schräge Töne, darauf das kurze Schweigen des Orchesters, dann die rhythmischen Akzentuierungen der Bandoneons, es folgt der Einwurf des Klaviers in einem aufsteigenden Lauf, bevor wieder die Violinen übernehmen. Vargas übernimmt, danach begleitet das Orchester (bei 2.27) staccatohaft-stotternd in einem Abwärtslauf für ein paar Sekunden den Sänger.
Allein für die Beschreibung dieser recht kurzen Passage brauchen wir viele Worte.





‍    → Rondando tu esquina  mit Vargas im November 1945. → Pugliese (mit Roberto Chanel) spielte den Titel in einer charmanten Version vier Monate früher ein. Das von Charlo komponierte Stück wurde von ihm selbst erst 1952 aufgenommen.


Angel Vargas verliess d‘Agostinos Orchester endgültig im September 1946. Er nahm den Arrangeur des Orchesters Eduardo del Piano mit, um seine Karriere mit eigenem Orchester weiter zu verfolgen.


Exkurs Angel Vargas (1904 -1959, eigentlich José Angel Lomio)  ›El ruiseñor de las calles porteñas‹

Seine ersten Auftritte als Sänger unter dem Pseudonym Carlos Vargas waren 1930 im Orchester von Augusto Pedro Berto. Sein grosser Durchbruch kam als Sänger bei Angel d‘Agostino. In der Biographie von Ricardo García Blaya bei Todotango heisst es, dass er ein charismatischer Sänger gewesen sei mit einer maskulinen Stimme, die sympathisch herüberkam. J. Bieler schreibt: ›..Seine Art zu singen war immer unprätentiös und einfach, dafür aber ausgesprochen eindringlich‹, und spricht von ›schlichter, emotionaler Direktheit, bei konsequentem Verzicht auf sängerische Selbstdarstellung.‹

Nachdem Vargas 1946 mit d‘Agostino brach und eigene Wege ging, stellte er ein eigenes Orchester zusammen, das von verschiedenen Musikern geleitet wurde. Die Gesamtproduktion mit seinem Orchester belief sich auf 86 Aufnahmen. Dazu gab es eine Zusammenarbeit mit dem Trio Alejandro Scarpino. Besonders erwähnt wird der Tango Chingolito (Ya no cantas chingolo), den er im Duo mit seinem Bruder Amadeo Lomio sang.

Vargas starb jung mit 54 Jahren.


Ein Jahr später, Mitte 1947 kam es zum nächsten grossen Unterbruch bei d‘Agostino inklusive Orchesterauflösung. In seinen späteren Confesiones sagt d‘Agostino nichts über die Hintergründe, sondern drückt sich nur ausweichend-nebulös aus: ›Ich bildete Ensembles und habe mich bald wieder zurückgezogen, das habe ich mehrmals getan...‹ 

Ab Dezember 1951 ging d‘Agostino mit einem neuen Orchester wieder ins Plattenstudio und machte bis 1963 weitere 35 Aufnahmen. Die wichtigsten Sänger in jener Periode waren Tino Garcia, und von 1951-57 Rubén Cané, der offensichtlich wegen der Stimmähnlichkeit mit Vargas gewählt worden war. Diese Sänger hatten nicht mehr das Charisma von Vargas.


Cascabelito

Als letzte Aufnahme in der Reihe der d‘Agostino-Interpretationen stelle ich die schöne Komposition Cascabelito von José Bohr vor. Sie wurde als erstes von Tango-Idol Carlos Gardel 1924 mit Gitarrenbegleitung gesungen, es folgten Canaro, und 1928 José Bohr mit seinem Orchester (beides Instrumentalversionen). 1941 spielte → di Sarli diese Komposition (mit Roberto Rufino) in einer bezaubernden Version ein. Angel Vargas nahm es nach der Trennung von d‘Agostino 1951 in einer ansprechenden Interpretation auf. 

Als Angel d‘Agostino anfangs der 50er-Jahre wieder ein Orchester gebildet hatte, nahm er → Cascabelito 1953 mit Ricardo Ruiz ebenfalls auf. Es blieb bei dieser einen einzigen Aufnahme mit Ruiz. Der Grund für die nicht weitergeführte Zusammenarbeit ist unklar. Diese Version kommt langsam und etwas träge daher, die Geigen haben für mich etwas Süssliches. Trotz der guten Stimme von Ruiz ziehe ich klar die Version von di Sarli vor. 

1955 folgte die Version von → Osvaldo Pugliese mit Jorge Maciel, die dank Puglieses Kunst der Dramatik sehr hörenswert ist und zusammen mit der di Sarli-Version zu meinen Favoriten gehört. (Text mit englischer Übersetzung beim Pugliese-Link; Dank an Paul Bottomer.)


Die meisten Aufnahmen aus der letzten Periode sind für uns Tänzer wenig interessant. Sie sind arg schluchzgeigenlastig – ich würde sie bereits schmalzig nennen. Wer reinhören möchte, kann z.B. nach Carnaval de mi barrio und Como queres que te quiera suchen (beide 1954).


Aus früheren Rezensionen:

›.. setzte Angel D'Agostino konsequent auf etwas anderes, nämlich auf guten Geschmack und Distinktion.

Die Instrumental-Vorspiele (bis der Sänger einsetzt) sind bis auf wenige Ausnahmen sehr melodiös, sie präsentieren die Melodie des jeweiligen Tango-Cancion meist ganz genau. Und geben oft noch etwas dazu, Stimmung, Atmosphäre, manchmal nostalgisch-verhangen, manchmal entschieden.‹ (J. Bieler)


Seinen Stil beschreibt d‘Agostino in einer Selbstbeschreibung so: »Also prägte ich meine Orchester mit zwei Ansätzen, die ich nie aufgegeben habe: Respekt für die melodische Linie und die rhythmische Akzentuierung, um das Tanzen zu erleichtern. Wenn der Sänger auf die Bühne kommt und die Musiker aus dem Schweinwerferlicht nimmt, war das Orchester(spiel) so strukturiert, dass Musik und Gesang die Möglichkeit des Tanzens nicht behindern. Dafür musste der Sänger ein weiteres Instrument werden, ein bevorrechtigtes Instrument, aber kein eigenständiges.« Ähnliches äusserte Troilo. (Deutsche Übersetzung nach englischer Version durch den Verfasser.)


Als Besonderheit führt Michael Lavocah eine ›Frage- und Antworttechnik‹ bei d‘Agostino an. Als Beispiel dient Adiós arrabal: die Violinen spielen eine Sequenz, die Bandoneons übernehmen, dann eine kurze Phrase des Klaviers, usw. Jedoch – das ist eine Technik, die sich durch die ganze Musikgeschichte zieht. Solches ›Fragen und Antworten‹ hören wir in jedem Quartett oder Quintett. Ich möchte die Gegenfrage stellen: Hören wir nicht bei fast allen Tango-Orchestern der 40er-Jahre ein Wechselspiel zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen? Oft ist es mehr ineinander verwoben (das ist auch bei d‘Agostino der Fall, z.B. bei Caricias). Bei Adiós arrabal ist es abgetrennter und besser unterscheidbar. Deswegen solch eine ›Frage- und Antworttechnik‹ zu einer Besonderheit von d‘Agostinos Stil zu erklären, ist für mich nicht wirklich schlüssig.

Spätestens hier sollte erkennbar sein, dass ich nicht einfach die Einschätzungen von Anderen übernehme, sondern auf eigene Art mich der Musik der verschiedenen Orchester nähere – und, wenn nötig, auch mal eine etwas abweichende Meinung äussere. 





Bailemos Tango ! 


‍      Tango-DJ Michael KI                                                        im Juli 2021 




Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen

zusätzlich: https://www.todotango.com/english/artists/biography/31/angel-DAgostino/

‍                https://www.todotango.com/historias/cronica/356/DAgostino-Confesiones-de-angel-DAgostino/

‍                https://www.todotango.com/english/history/chronicle/584/Orquesta-Tipica-angel-DAgostino/

‍                https://www.pagina12.com.ar/diario/espectaculos/6-42672-2004-10-22.html (Julio Nudler) 

‍                https://milongandoblog.wordpress.com/2017/11/11/angel-dagostino-si-presenta/#more-6787 

‍                Zwischen Kunst und Canyengue,  Biographie v. Jürgen Bieler (Tangodanza 17, 2004)

‍                Discographie: https://www.el-recodo.com/music?O=Angel%20D%27AGOSTINO&lang=en

Wer weitere Vergleiche anstellen will – es gab danach weitere Interpretationen dieses beliebten Titels: Pugliese (1952 mit Alberto Morán); Hector Mauré mit Gitarrenbegleitung (1954); die Ases del Tango 1959; Miguel Caló (1965 mit Marga Fontana) – alles auf YouTube zu finden.

Tomo y obligo, Barnabas von Geczy mit Orchester 1933

Werbung in Zeitung für den Carneval 1944. Interessant, dass der Text des Refrains zum Mitsingen angegeben ist.

Die ganze Florida-Strasse sah ihn 

mit seinen Gamaschen, Zylinder und Stock.

Ein vornehmer Familienname, grosser Herr auf den Partys, 

er sehnte sich nach den Damen

und eroberte ihre Herzen.

Hier der entsprechende Ausschnitt ab etwa 1.51 bis zum Schluss

Die Nippon Radio Telegraph and Telephone Company schloss 1924 mit Telefunken Deutschland einen Vertrag über Technologie und Kapitalbeteiligung. Ein Pressstempel wurde nach Japan geschickt und die Platten dort gepresst (Made in Japan). Interessant, dass nur der Titel auf japanisch angegeben ist, der Rest, wie ‘Bestell-Nr‘, in europäischer Schrift.
Angel Vargas, vermutlich bei Radio-Aufnahme (Jahr?)