Rodolfo Biagi – der König des Off-Beats (1906 - 1969)

Vorsicht, meine Herren, vergesst nicht, dass der Tango auch ein Tanz ist.
– Guarda caballeros, no olviden que el Tango también es baile. - José Gobello

‍      Im Gegensatz zu anderen Grössen des Tangos wurde Rodolfo Biagi in eine wenig musikalische Familie hineingeboren, wo Musik keine grosse Rolle spielte und wo kein Familienmitglied Musiker war. Der junge Biagi wurde jedoch in der Schule von der Musik in Bann geschlagen, in der Folge bestürmte er seine Eltern mit dem Wunsch nach einer Geige. Sie versuchten ihm das auszureden, aber er nervte sie so lange, bis seine Eltern nachgaben und ihn in der Musikschule einschrieben. Sein Musiklehrer bemerkte bald, dass die Violine nicht 'sein' Instrument war, sondern dass ihm das Klavier mehr liegen würde. »Because any time he left the piano stool for a while I used to run to the piano and practiced octaves and arpeggios and even some tango licks – Jedes Mal, wenn er den Klavierstuhl verliess, rannte ich hin und übte Oktaven und Arpeggios, und sogar einige Tango-Phrasen.« (Biagi im Interview 1960)

Das verringerte nicht die Besorgnisse seiner Eltern, dass er sie bald mit einem neuen Wunsch bedrängen würde. 

Er war anscheinend so ein Talent, dass er bereits mit 13 Jahren ein Diplom in der Tasche hatte. In der Folge verdiente er ein bisschen Geld bei der musikalischen Begleitung von Stummfilmen in den umliegenden Kinos. Mit 15 wurde er vom damaligen Tango-Maestro Juan 'Pacho' Maglio entdeckt und angeheuert, in dessem Orchester spielte er im ›El Nacional‹. Sein Talent muss sich rumgesprochen haben, denn er wurde 1930 von niemand geringerem als Carlos Gardel engagiert, ihn auf dem Klavier zu begleiten (dieser war bis anhin von Gitarristen begleitet worden). Welch ein Aufstieg.


‍       Engagement bei Juan d‘Arienzo

‍   Biagi war oft im Club Chantecler, wo d'Arienzo spielte und freundete sich mit ihm an. 1935 eröffnete sich ihm eine neue Chance. Nach einer Brasilien-Tour mit dem Orchester von Juan Canaro (einem der Canaro-Brüder) kehrte er nach Buenos Aires zurück. D'Arienzo ärgerte sich über seinen Pianisten Lidio Fasoli, der immer wieder unpünktlich war oder bei Live-Auftritten gar nicht erst auftauchte. Auch dessen Ersatz Luis Visca konnte aus gesundheitlichen Gründen wiederholt nicht erscheinen. Jedenfalls wurde Biagi an einem Abend vom Meister aufgefordert, sich auf den leergebliebenen Klavierstuhl zu setzen. Der liess sich nicht zweimal bitten. **) Biagi wurde zum Pianisten des Orchesters und hatte grossen Einfluss auf dessen dynamischen Stil. Ab dem 31. Dezember 1935 hören wir auf den Schallplattenaufnahmen Biagi am Klavier. 

Wir hören, dass der Stil von d'Arienzos Orchester mehr Drive hat, rhythmischer geworden ist, etwas Treibendes hat. Biagis Einfluss auf die Spielweise des Orchesters war gross. Juan d‘Arienzo kam gerne etwas später zu den Aufführungen, so dass das Orchester das erste Set oft alleine spielte, was ihnen die Möglichkeit zu experimentieren gab. Und eines Abends verlangte das Publikum, dass d‘Arienzo bzw. das Orchester den Tango 9 de Julio ›auf die neue, vorher gehörte Art‹ spielen sollte. D‘Arienzo erkannte sofort, wie gut dieser von Biagi beeinflusste Stil ankam. Biagis Spiel, das in den folgenden Jahren staccatohafter wird, trägt einiges dazu bei. Hier in den ersten Aufnahmen hält er sich, wenn wir es mit den späteren Aufnahmen vergleichen, noch zurück. Biagi hatte auch einen wichtigen Einfluss, dass La Puñalada als Milonga gespielt und zu einem der grössten Erfolge wurde. 

Wie kann sein Klavierstil beschrieben werden? David Thomas meint: mit allen Synonymen für hammering – das Klavier punktuiert die Phrasen in ungeduldigen Staccato-Ausbrüchen und mit unerwartetem Off-Beat-Timing, in einer Art, die kein Tango-Komponist oder Arrangeur schreiben würde, und noch weniger hätte schreiben können. Manche Zeitzeugen nannten seine Art zu spielen als 'besessen', ein Tango-Historiker verstieg sich sogar zum Ausdruck 'nahezu epileptisch'.

Wenn man d'Arienzo den Titel King of the Beat gab, dann müsste man Biagi den König des Off-Beats nennen. Seine unvorhersagbaren Off-Beats waren sein Markenzeichen, vor allem in den Jahren ab 1938.


‍        Die fruchtbare Zusammenarbeit von Biagi und d'Arienzo endete abrupt 1938

‍      Bevor wir zu der oft erzählten Geschichte kommen, ein paar Vorbemerkungen. D'Arienzo wollte der Star auf der Bühne sein, er hatte anscheinend Mühe, jemanden neben sich gelten zu lassen. Geht auf YouTube, und schaut euch die Fernsehauftritte von d'Arienzo an – auch im hohen Alter war er der Mittelpunkt, so wie er auf der Bühne herumspringt.

Die am meisten erzählte Geschichte von Biagis Rauswurf geht so: die Band spielte den Vals Lagrimas y sonrisas, und Biagi war an jenem Abend besonders gut drauf – das Publikum applaudierte ihm für sein brillantes Spiel und wollte nicht aufhören, bis Biagi sich kurz auf dem Klavierstuhl verneigte. An diesem Punkt ging d'Arienzo zu Biagi und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin der einzige Star des Orchesters – Du bist gefeuert.«

Das ist die gängige Story. Vielleicht hat sich die Geschichte wirklich so zugetragen. Aber genauso gut ist möglich, dass die Trennung schon länger in der Luft lag. 

Sollte es uns nicht verwundern, dass Biagi es schaffte, innerhalb von nur 2 Monaten nach der Trennung ein volles Orchester zusammen zu stellen? Er schaffte es auch, in dieser kurzen Zeit einen Vertrag mit Radio Belgrano zu sichern. Das ist, auch wenn man die Bekanntheit von Rodolfo Biagi berücksichtigt, eine verblüffend kurze Zeit. Keine zwei Monate nach seiner letzten Aufnahme mit d'Arienzo (Pensalo bien, aufgenommen am 22. Juni 1938) stand Rodolfo Biagi mit seinem eigenen Orchester und dem damals berühmten Sänger Teófilo Ibáñez im Aufnahmestudio von Odeon. Eine erstaunlich kurze Zeit, wenn man sieht, wie lange auch bereits bekannte Orchester auf einen Schallplattenvertrag warten mussten. Ibáñez war nicht irgendein Sänger, sondern in jener Zeit sehr bekannt, eine Persönlichkeit der Tango-Welt, der schon bei Firpo, beim OT Victor, bei de Caro, Donato und Fresedo gesungen hatte.

Im Internet fand ich folgende Betrachtung von Igor El Espejero und Paul Bottomer rund um den Weggang von Biagi.

Die letzte Aufnahme mit Biagi am Klavier Am 22. Juni 1938 war Pensalo bien. Schauen wir genauer auf den Text, der von einem Freund d'Arienzos geschrieben wurde:

‍               Pensalo bien,                                      Überleg es dir gut. 

‍            antes de dar ese paso,                         bevor du diesen Schritt tust,         
                  que tal vez mañana acaso                    weil morgen du ihn 
                  no puedas retroceder.                         nicht mehr zurücknehmen kannst.

Das ist ein Tango, der vorher noch nie aufgenommen worden ist, und der auch später kein weiteres Mal aufgenommen wurde. Es scheint, dass der Tango, und vor allem der Text, genau für diesen Moment geschrieben wurde. Der Verfasser der Lyrik soll ein Bandoneonist in d'Arienzos Orchester gewesen sein, der später als Tango-Textdichter aber nie mehr in Erscheinung trat. Wurden die Zeilen speziell in Auftrag gegeben? Rufen wir uns wach: der Vorfall rund um Lagrimas y sonrisas hat noch nicht stattgefunden. Was bedeuten also diese Worte? Ein Mahnruf und eine Vorwarnung  – oder  war es blosser Zufall?

‍    Die Geschichte ist hier noch nicht fertig. Bei d'Arienzo übernahm nach dem Weggang Biagis Juan Polito den Platz auf dem Pianistenstuhl. Ist es ist nicht verblüffend, wie gut er den Stil von Biagi kopierte? Nur zwei Wochen später, am 8. Juli 1938, war d'Arienzo wieder im Aufnahmestudio mit dem Titel Nada mas.

‍    Im Text, der eine Liebesgeschichte behandelt, finden wir die aufschlussreichen Zeilen: 

‍    No quiero nada, nada más                            Nichts, nichts mehr möchte ich

‍                            que no me dejes                                              als dass du mich nicht verlässt                             
                            (frente a frente con la vida.)                         (..)  

‍                            Me moriré si me dejás                                   ich werde sterben, wenn du mich verlässt,

‍                            porque sin vos no he de saber vivir.           weil ich nicht weiss wie leben ohne dich.

→ Nada mas

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Also – in nur zwei Wochen soll d'Arienzo es geschafft haben, die Arrangements so zu schreiben, dass der Stil ähnlich klang wie vorher (das war vielleicht das einfachere), und einen Pianisten zu formen, der in dieser kurzen Zeit lernte (was sicher schwieriger war), ähnlich zu spielen wie Biagi?

Was nahm Biagi als ersten Titel am 15. August 1938, also einen Monat nach Nada mas, auf? Es war eine Eigenkomposition mit dem sehr ungewöhnlichen Titel Golgota (auf der anderen Seite der Instrumentaltango El Incendio).

Im Text die Aussage: ».. aber ich will nur alleine sein, für mich selbst.«

Oder anders gesagt: in seinem ersten, selbstkomponierten Tango Golgota teilt Biagi mit, dass er bereit ist, sein eigenes Kreuz zu tragen.

Die naheliegende Schlussfolgerung aus diesen Begebenheiten ist, dass Biagi schon längere Zeit den Wunsch hatte, seinen eigenen Weg zu gehen, und dass d'Arienzo, seine Freunde und Mitmusiker davon wussten. Die Trennung war schmerzlich und geschah nicht einfach über Nacht. Auch wenn die anfangs erzählte Geschichte mit Lágrimas y sonrisas so passiert sein sollte, dann war es die Konsequenz von Biagis Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen, und nicht die Ursache der Trennung der zwei Grössen des Tango.

Diese Interpretation der Ereignisse hat etwas Überzeugendes an sich, nicht wahr? Jedoch wird ein aufmerksamer Beobachter einwenden: die beiden sollen sich Nachrichten via Schallplatten zugeschickt haben? Wie soll das gehen? Die Schallplatte war nicht sofort nach der Aufnahme verfügbar – das sind vorschnelle Annahmen der heutigen Fast-Food-Generation. Zwischen Aufnahme und Auslieferung einer Schallplatte dauerte es etwa 2-3 Monate.

Woher wir das wissen? Für die Plattenproduktion in den USA gibt es entsprechende Hinweise: z.B. heisst es bei Benny Goodmans Sweet Sue, just yourecorded NY 8.4.1938, released as Victor 26089, issued in November 1938‹. Laut den Angaben eines Swing-Kenners kann man die durchschnittliche Dauer bis zum effektiven Verkauf auf ca. 2 Monate schätzen, aber mehr als einmal ging es eben auch länger, manchmal auch kürzer. Und da man annehmen darf, dass RCA Victor in Buenos Aires kaum die bessere oder grössere Fabrik hatte, so darf man auch für Argentinien entsprechende Zeiträume annehmen.

Allerdings sollte man in Betracht ziehen, dass die Stücke vorher in den Clubs und Cabarets vor Publikum gespielt und getestet wurden, man schaute, wie das Publikum reagierte, manchmal wurden die Stücke auch angepasst, bis sie ‘sassen‘. Danach ging es in die Radiostudios. Erst, wenn das Orchester das Stück quasi auswendig kannte, ging man ins Schallplatten-Aufnahmestudio. Dort wurde das Stück live im Direktschnittverfahren eingespielt, in der Regel in einem Rutsch. Dass man eine zweite Aufnahmerunde nachschieben musste, war selten . Das können wir an den Matrixnummern erkennen. Bei einer zweiten Aufnahmerunde wurde das in der Regel bei der Matrix vermerkt, meistens mit einer 2 hinter der Nummer (Odeon hatte eine andere Notation – bei einer Matrixnummer mit dem Zusatz /1 zeigte die Zahl den zweiten Versuch an).

Und deshalb ist es – auch wenn man es nicht wirklich beweisen kann – wohl möglich, dass die beiden mit ihrer Musik einander Nachrichten zugeschickt haben. Für mich hat die These, dass die Trennung schon länger ‘in Arbeit‘ war, etwas Überzeugendes.


Nach der Trennung von d'Arienzo wurde Biagis Spiel noch rhythmusbetonter und staccatohafter. Er sagte, dass er danach trachtete die für das Klavier zugedachte Rolle als Begleitinstrument auf eine neue Ebene heben wollen. »As for my style, I always longed to place the piano at a different level to the one used by the typical tango orchestras.« (aus seinem Interview 1960)

Später wurde sein Spiel mit dem Begriff Manos brujas - verhexte Hände bedacht. Ihm schien dieser Übername irgendwie gefallen zu haben. Nachdem er sein eigenes Orchester aufgebaut hatte, spielte er am Anfang jedes Auftrittes, besonders beim Radio Belgrano, den Foxtrot Manos brujas. (Bis jetzt war es mir nicht möglich, diesen Foxtrot ausfindig zu machen.)

Wie d‘Arienzo ist Biagis Stil rhythmusorientiert, aber der Unterschied zu d‘Arienzo ist von Anfang an deutlich zu spüren und zu hören. Wenn ich es in Worte fassen will, fällt es dennoch nicht so leicht. Sein Takt ist noch schärfer akzentuiert als bei d‘Arienzo. Wobei der Grundschlag nicht durchgehend ist - er ‘zieht‘ und verlangsamt immer wieder mal. Die Geigen sind bei ihm prominenter (als bei JdA) eingesetzt. Und natürlich sein Klavierspiel, das mehr Platz bekommt und oft vor dem Ende vor dem Einsatz der letzten Variación der Bandoneons noch einmal übernimmt.  

Bei der Suche nach einem Stück, das sowohl von d'Arienzo wie auch von Biagi aufgenommen wurde, fiel mir auf, dass die Anzahl der gleichen Titel relativ gering ist, und das, obwohl beide bei verschiedenen Schallplattenfirmen aufnahmen (d'Arienzo bei RCA Victor, Biagi bei Odeon). Wenn man die Sache mit den Schallplattenkonzernen weiterverfolgt, so sieht man, dass zum Beispiel Troilo und di Sarli, die beide bei RCA Victor aufnahmen, relativ wenig gleiche Titel auf Platte veröffentlichten – vermutlich auf Druck der Schallplattenbosse, die innerhalb ihres Labels nicht allzu viel ‘interne Konkurrenz‘ haben wollten. Hingegen war die Anzahl von gleichen Titeln bei Lomuto und Canaro, die bei verschiedenen Schallplattenfirmen unter Vertrag waren, deutlich grösser.

Für einen direkten Vergleich suche ich nach einem Instrumentaltango, der von beiden Orchester aufgenommen wurde. Bei den gesungenen Titeln werden die Unterschiede der Spielweise überlagert von den noch grösseren Unterschieden bei den Sängern. Diese Suche gestaltete sich deutlich schwieriger als gedacht. Union civica wird 1938 von beiden Orchester aufgenommen, aber bei der d'Arienzo-Version ist noch Biagi dabei – Biagi spielt gegen Biagi. La Viruta wird von beiden Orchestern aufgenommen, liegen jedoch 12 Jahre auseinander (1936/48). Für einen direkten Vergleich bleibt fast nur El Internado – die beiden liegen ‘nur‘ ein Jahre auseinander.
Biagis Version von 05/1953;    d‘Arienzos Internado von 12/54.


Wie bereits gesagt, arbeitet Biagi viel mit Breaks (Pausen) und mit unvorhersagbaren Off-Beats. Off-Beat? Vielleicht ist das am Besten mit Grossmutters Tik-Tak-Pendeluhr erklärbar. Der grundlegende Taktschlag der Musik ist bei Tik und bei Tak. Der Off-Beat kommt z.B. genau in der Mitte. Aber es wird noch schwieriger: um dich zu überraschen, kann Biagi den ersten Beat (das Tik) weglassen und es gleich von einem Off-Beat folgen lassen, oder sogar beide weglassen. Ein Schreiber meinte humorvoll, dass man Biagi auch daran erkennt, wenn Du aus dem Takt kommst und dich vertanzst …

Ein Beispiel, um die unvorhersehbaren Pausen zu illustrieren ist das Instrumentalstück Belgica – bis zu 0.22 haben wir bereits 6 Pausen. Wenn Du genauer hinschaust und hinhörst, kannst Du auch erkennen, dass die Beats (Schläge) unregelmässig gesetzt sind bzw. versetzt (verschoben zum Grundtakt) kommen (ab ca. 0.24). 

‍    → Belgica (1942)

Der Tänzer erwartet eine Betonung des 1. und 3. Taktes, auch wenn der Rhythmus verdoppelt, synkopiert wird. Biagi lässt die Takte aus und betont den 2. und 4. Takt, mehr noch – er verwendet kurze, stille Pausen wie einen betonten Takt. Versucht mal als Tänzer, diese Pausen vorauszuahnen und nicht zu tanzen – es ist kaum möglich. Wenn man auf dem Computer die Wellenformen seiner Tangos ab 1938 anschaut, sieht man, wie prominent solch kurzen Pausen in seinem Spiel sind.

Ähnliches bei der Milonga → Soy del noventa (1943 mit Carlos Acuña), die voll von rhythmischen Unregelmässigkeiten und schwer zu tanzen ist. 


Die Sänger

Sein erster Sänger war Teófilo Ibáñez, kurz darauf folgte Andrés Falgas (ab 1939). In jenen frühen Jahren (bis 1941) hinterlässt uns Biagi einige schöne Valses, ein Erbe aus der Zeit bei d'Arienzo, der viele beim Publikum beliebte Walzer spielte, um einen Abend aufzulockern. In den späteren Jahren war ein Vals bei Biagi eher die Ausnahme.
        → Dichas que vivi 1939 mit Andrés Falgas

Am besten jedoch passte Jorge Ortiz, der 1940 zu seinem Orchester stiess. Er blieb etwa drei Jahre bei Biagi. Auch wenn Biagi und er zusammen nicht mehr als 39 Titel aufnahmen, so wurden die beiden in jener Zeit doch in einem Atemzug genannt: Biagi-Ortiz. Ortiz passt sich gut dem rhythmusorientierten, abgehackten Stil des Orchesters an.

In jener Zeit  hatten die Sänger die Funktion von Estribillistas - von Refrainsängern. Das war auch bei Ortiz so. In dem bekannten Stück → Todo te nombra von 1940 sollte der Sänger, der gängigen Einteilung folgend, bei 1.17 einsetzen, er kommt aber erst spät bei 1.39 mit kurzem Text. 

1943 verliess Ortiz das Orchester, ging zu Miguel Caló, aber der wollte wohl einen Sänger mit einer weicheren Stimme. Ortiz kehrte 1945 zu Biagi zurück.

Ab etwa 1944 verlangsamte sich das Spiel seines Orchesters und gab den Sängern mehr Raum. → Marol 1946 mit Alberto Amor 

Auch Biagi folgte dem Trend der Zeit, auch bei ihm nahmen die gesungenen Tangos überhand – ab Mitte 1942 werden die Instrumentaltitel deutlich seltener, in der Spätzeit gibt es fast nur noch gesungene Tangos, meistens mit Hugo Duval, wobei der Gesang einen immer grösseren Raum einnahm. Von September 1942 bis Mitte 1946 gab es keinen einzigen Instrumentaltango. In den 50er Jahren findet er teilweise zu den Instrumentaltangos zurück und nimmt Titel wie Racing Club, La Viruta, El Internado auf, die auch heute noch gerne an Milongas aufgelegt werden.


Das Orchester von Biagi musizierte auch nach 1955 auf hohem Niveau. Seine letzten Aufnahmen waren gemäss den mir verfügbaren Unterlagen 1966. Rodolfo Biagi, der es geschafft hatte, mit seiner Persönlichkeit und Spielweise einen ganz eigenen, unverwechselbaren Stil zu gestalten, starb unerwartet im September 1969.


Bailemos Tango ! 


‍    © Tango-DJ Michael KI                     08/2020, letzte Ergänzung 12/2020





** So zu lesen in mehreren Nacherzählungen. Warum werden Geschichten so gerne nachträglich dramatisiert? Ist die Wirklichkeit nicht genug? Es war nicht so, dass an einem Abend Biagi plötzlich das Glück hatte, einzuspringen, und dann war er von einem Tag auf den anderen der neue Pianist bei d‘Arienzo. In Wirklichkeit war es so, dass Biagi schon mehrmals für Luis Visca, der aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen konnte, eingesprungen war. »Several times I was invited to replace him because he always was a little bit ill. When his health was even worse it was normal that I was his substitute.« (aus Biagis Interview 1960)



Die wichtigsten Quellen: siehe Beitrag Vorbemerkungen

‍        Weitere Quellen im Internet: https://www.todotango.com/english/history/chronicle/286/Biagi-Interview-to-Rodolfo-Biagi-in-1960/

‍        https://elespejero.wordpress.com/2015/06/22/tango-stories-pensalo-bien/

‍        https://www.el-recodo.com/juandarienzo-en?lang=en