Lucio Demare war ein frühbegabter Pianist, der 1938 sein eigenes Tango-Orchester gründete und der Tangowelt einige wunderschöne Kompositionen schenkte. Die bekanntesten von ihm komponierten Titel sind Telón, Mañana zarpa un barco, Solamente ella, Tal vez será mi alcohol (später umbenannt in Tal vez será su voz), und natürlich seine bekannteste Komposition Malena.
Lucio Demare hat in einem ausführlichen Interview, das er 1974 gab, viel aus seinem Leben erzählt. Und so lassen wir ihn so oft wie möglich selbst zu Worte kommen. (deutsche Übersetzung nach dem englischen Text bei Todotango)
Lucio hatte das Glück, einen Vater als Musiker zu haben. Domingo Demare spielte die Violine, und Lucio lobte, dass er ein guter Musiker war. »Ich weiss nicht, ob die Musik eine Begabung war, das ich von ihm erbte. Er lehrte mich ein bisschen Musiktheorie, Noten lesen und Klavier.« Und auch sein vier Jahre jüngerer Bruder Lucas wollte ein Instrument lernen. Die Eltern zogen, als er fünf war, in den Bezirk Colegiales.
»Ich spielte nicht in den Strassen, ich spielte Klavier. Für mich war das Klavierspielen natürlich authentisch, weil ich es so fühlte. Mit der ganzen Familie lebten wir in zwei Zimmern. Meine Mutter rief mich oft, dass das Essen kalt würde, und wenn ich nicht kam, drohte sie, das Essen auf mich zu werfen, wenn ich weiter Klavier spielen sollte. Diese Sache (die Lust zu spielen) war etwas Aufrichtiges, ich fühlte es so. Ich glaube, ich wurde für die Musik geboren.«
Später hatte Lucio einen Klavierlehrer, der ihm nach zwei Jahren mitteilte: »Ich habe Dich nichts mehr zu lehren.«
Durch einen Freund seines Vaters kam er zum Klavierlehrer Vicente Scaramuzza (der auch Tangogrössen wie Osvaldo Pugliese und Orlando Goñi unterrichtete) und der ihm die kleinen Unarten des Spielens, die sich bei ihm eingeschlichen hatten, abgewöhnte. »Ich verstand ihn, und er liebte mich sehr.«
Bereits mit acht soll Lucio das erste Geld mit Klavierspielen verdient haben. »In einem Kino in meiner Nachbarschaft zahlte man mir monatlich 40 Pesos für die Begleitung von Stummfilmen. Ich spielte von 2 Uhr nachmittags bis um Mitternacht. Auch wenn das Arbeit war, machte ich es gerne. Das war etwa 1914. Seit dann habe ich nicht mehr aufgehört zu arbeiten.«
Stellen wir uns so etwas vor in unserer überregulierten Zeit, in der fast jeder Lebensbereich von Gesetzen und Verordnungen bestimmt wird: Ein Achtjähriger, der in einem Kino 10 Stunden lang bis Mitternacht Filme begleitet… undenkbar. Wenn heute ein achtjähriges Kind freiwillig und aus Freude seinen Eltern für kurze Zeit im Restaurant oder im Laden hilft, werden gleich die Eltern wegen Kinderarbeit angezeigt. Das Ausschlaggebende für mich ist, dass Lucio es gerne tat.
Er erzählt weiter, dass er Lieder und Ausschnitte aus Opern spielte – aber keinen Tango. »Tango war etwas in den Strassen und in einer besonderen Gegend. Darüber hinaus war es etwas für Erwachsene.«
Laut anderen Quellen spielte er auch Klavier auf einem Fährschiff zwischen Buenos Aires und Montevideo. Im Kino Real spielte er später Jazz mit einem Banjo-Spieler (in der Biographie von Todotango wird der von Lucio erwähnte Banjo-Spieler seltsamerweise zum Bandoneon-Spieler. Jazz mit Bandoneon?).
»In diesem Kino, wie in manchem anderen, gab es drei Orchester. Ein klassisches im Orchestergraben,
eine Jazzband auf einer kleinen Bühne, und ein Tango-Orchester auf einer anderen.«
Dort wurde er von Adolfo Carabelli entdeckt, der ihn für sein Jazz-Orchester ins Cabaret Tabaris mitnahm. Zu jener Zeit war er noch nicht einmal 16, und offiziell war dem Minderjährigen nicht erlaubt, dort zu arbeiten. Von dem Jungen hinter dem Klavier konnte man jedoch nicht viel sehen, denn er war klein. Er, der immer noch kurze Hosen trug, bat seine Mutter, dass er lange Hosen brauche für die Arbeit, aber seine Mutter als traditionelle Italienerin meinte, dass lange Hosen erst mit 18 angebracht seien.
»Aber Mutter, das ist ein Cabaret. ich kann nicht so gehen, das ist lächerlich!«
Er bekam die langen Hosen und durfte im Tabarís spielen. Im Tabaris spielte auf der anderen Seite das Orquesta tipica von Francisco Canaro. Die Musik faszinierte ihn. Lucio lernte dort den Bandoneonspieler Minotto Di Cicco kennen. Wenn Canaro, der nicht wollte, dass seine Leute anderen etwas beibrachten, um drei Uhr den Ort verliess, zeigte Minotto ihm, worauf es beim Tango ankam.
Als bekannt war, dass Canaro eine Tour nach Paris machen wollte, fragte Lucio ihn mit der Unbekümmertheit der Jugend, ob er nicht mitkommen könne. Canaro lehnte ab.
»Ich bat Canaro, mich nach Europa mitzunehmen. Er fragte zurück, was ich denn dort wolle, und ich antwortete: ›Tango‹. – ›Du weisst nicht, wie man Tango spielt‹, antwortete er. Ich von der gegenüberliegenden Jazzbühne entgegnete ihm, dass ich den Tango lernte und ihn mochte. Er antwortete nichts.«
Einige Zeit später kam Canaro zu ihm und fragte ihn, ob er immer noch nach Paris mitkommen wolle. Das war 1926, Lucio war zu dieser Zeit 19 Jahre alt.
»Wir riefen Canaro normalerweise mit seinem Spitznamen Pirincho, aber seine Brüder nannten ihn Kaiser, weil er ein harter Kerl war (un tipo muy duro). Mit ihm erlebte ich viele schöne Dinge, wie die Reise nach Europa, wo ich ihn als ernsthafte, verantwortungsvolle Person mit einer Vision kennen lernte.«
Sie spielten im Ambassador, einem feinen Lokal am Place de la Concorde. »Dort erlebte ich Paul Whitemans Auftritt - ich konnte es kaum glauben. Ich drückte eines seiner Notenhefte an meine Brust als hielte ich ein Kind. Seine Notenständer und die Notenblätter waren da, und er kam für eine Probe mit dem ganzen Orchester und dem Vokalquartett, darunter Bing Crosby.« (Es war das Rhythm Boys-Trio mit Bing Crosby. Um etwas über den Tango-Tellerrand hinauszuschauen und um zu hören, wie in jener Zeit Jazz tönte, hier → ein Titel von Whiteman aus dem Jahr 1928.)
Lucio Demare komponierte einige Tangos, ohne ihnen Namen zu geben. Eines Abends stand die Ikone des Tango Carlos Gardel an seiner Seite, als er die Komposition spielte. Der Tango bekam später den Namen Dandy, und Gardel nahm ihn im Januar 1928 auf (1945 spielte ihn auch Pugliese ein).
»Dort sah ich auch eine Gruppe aus dem Folies Bergère, die aber aus Schwarzen bestand, so etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Ich sah auch Rodolfo Valentino, ich sprach nicht mit ihm, aber es war das erste Mal, dass ich jemanden in einem völlig weissen Smoking sah.«
Im Paris der 20er Jahre grassierte die Tango-Manie (siehe → hier), und die Argentinier verdienten sehr gut. Lucio Demare erhielt 600 Francs – pro Tag! Bereits nach kurzer Zeit hatte der erst 21-jährige Lucio das Geld zusammen, seine beiden Brüder und seine Mutter nach Paris nachkommen zu lassen und sich den Luxus eines Autos zu leisten (das er eigentlich nicht brauchte).
»Wir konnten uns alles leisten. Unser Peso war 10 französische Francs wert. Als ich in Paris ankam, sah ich einige Musiker, welche bei Canaro, bei Bianco-Bachicha und bei Manuel Pizarro spielten – alle hatten ein Auto. Für mich war es möglich, erst nach acht oder zehn Monaten ein Auto zu kaufen, weil ich nur mit meinem Vater nach Paris gekommen war. Ich wollte auch meine Mutter und meine beiden Brüder nachkommen lassen. Ich habe ohne Pause gearbeitet, bis ich es erreicht hatte. Für mein erstes Automobil zahlte ich 23‘000 Francs. Als ich es hatte, wusste ich nicht, was damit anfangen. Ich hatte keine Zeit es zu fahren, weil ich von 5 Uhr nachmittags bis 4 Uhr früh arbeitete. Nur zu dieser Zeit war es mir möglich, etwas spazieren zu gehen, aber nicht mehr. .. Ich mietete eine Wohnung für meine Mutter, mit Küche, Badezimmer und ziemlich guten Möbeln für nur 750 Francs im Monat.«
In den nächsten Zeile beklagt sich Lucio über die Argentinier, die nach Paris gekommen waren, kaum spielen oder singen konnten und ihre Landsleute um Geld anschnorrten. »Era el tipo vivo, el que esperaba la oportunidad para que alguien se descuidara y poder ‘dársela‘« – Leute, die darauf warteten, andere übers Ohr zu hauen.
Gardel feierte zu jener Zeit im Gaumont, einem der angesagtesten Musiktempel jener Zeit mit internationalen Auftritten, seine Erfolge.
»Er hatte seinen Erfolg, aber der Applaus kam vor allem von den Frauen. Für sie war Gardel wie ein Wesen von einer anderen Welt. Bei uns benahm er sich ungezwungen, er schätzte die Aufrichtigkeit der Porteños (Leute von Buenos Aires). Aber wenn er etwas Seltsames sah, ärgerte er sich. Seine Freunde erzählten ihm von einem Sänger, der ihn imitierte. Er sagte nichts, aber als er eines Tages eine Platte mit einer Aufnahme von ihm selbst in der Hand hielt, die mit dem Namen des Nachahmers überklebt war, ging er zu diesem und sagte ihm bloss: ›Das ist Betrug!‹ (esto ya es fulero).
Solche Leute waren eine Plage. Jeder, der fähig war ein Instrument zu spielen oder ein bisschen zu singen, ging nach Paris, um einen Vorteil aus dem Ansehen von anderen zu ziehen.«
Gardel kam zu ihm nach Hause, wobei es für Lucio wichtig war zu erwähnen, dass Gardel wie ein Gentleman zur verabredeten Zeit kam (Vino como un señorito, a la hora). Im Umkehrschluss heisst das, dass das bei seinen Landsleuten wohl eher die Ausnahme war. Gardel übte mit Lucio das Stück Dandy ein. Als Gardel erfuhr, dass Lucios Mutter Italienerin war, bat er, am nächsten Tag bei ihr Pasta zu essen. An dem Tag sang er der Mutter das von Lucio komponierte → Dandy vor und lobte ihren Sohn.
Canaro brachte Demare mit den beiden Sängern Agustin Irusta und Roberto Fugazot zusammen, die auf Anraten Canaros 1927 nach Paris gekommen waren und in den Orchestern von Rafael und Juan Canaro sangen. Auf Canaros Vorschlag gingen sie als Irusta-Fugazot-Demare-Trio bzw. als ›Trio Argentino‹ in Spanien auf Tour, die erste Station war Madrid. Die beiden Sänger Irusta und Fugazot begleiteten sich dabei selbst auf Gitarre. Das Trio war erfolgreich, der ursprüngliche Vertrag von zwei Wochen musste auf drei Monate verlängert werden. In der Folge konnten sie bei der Schallplattenfirma Gramófono in Barcelona Aufnahmen machen. Die Schallplatten verkauften sich gut in Spanien.
Anmerkung: Ab hier werden die verschiedenen Aussagen widersprüchlich und passen nicht wirklich zusammen. Nach seinen eigenen Worten suchte Lucio in Frankreich mehrere argentinische Musiker zusammen und formte ein Orchester, mit dem er auf Tour ging. Jedoch steht in verschiedenen Biografien, dass er nur mit den beiden Sängern als Trio für drei Monate nach Spanien tourte und in Madrid unter dem Namen Trio Argentino, verkleidet als Folklore-Gauchos grosse Erfolge feierte. Andere Erzählungen sagen, dass sein Bruder Lucas zum Trio dazustiess und sie auf dem Bandoneon begleitete. Eine andere Möglichkeit ist also, dass das Trio mit zusätzlichen Musikern (vermutlich mit denen, die er zusammengesucht hatte) verstärkt wurde. Eine weitere mögliche Version ist, dass Demare sowohl mit dem Trio als auch mit seinem Orchester in Spanien auftrat. Auch wenn verschiedene Darstellungen den Anschein geben, als sei alles klar, so täte es einer ehrlichen Geschichtsschreibung nur gut, wenn ›Tango-Archäologen‹ auch auf die ‘Löcher‘ aufmerksam machen würden. Sie tun es leider viel zu selten.
Trotz der Erfolge befriedigte ihn das Trio musikalisch nicht wirklich: »Aber ich war ein Junge, der sich selbst als Musiker sah. Das, was wir machten, machte ich gerne, aber das bisschen Klavierspielen mit den Sängern war kein grosses Vergnügen für mich.«
Interessant ist folgende Episode: 1930 tourten sie (ich vermute, mit dem von ihm zusammengestellten Orchester) nach Cuba, wo sie für ein Jahr blieben. Sie waren dort nur leidlich erfolgreich. »Die Cubaner waren freundlich und sehr fröhlich. .. Aber in Cuba fand der Tango nur geringes Interesse. Ich musste einsehen, dass die Dinge nicht gut liefen, und so entschied ich mich, Richtung Süden nach Argentinien zurückzukehren. Wir gingen nach Haiti, aber auch hier fanden wir keinen Enthusiasmus. Wir mussten in der argentinischen Botschaft auftreten, wir spielten einige Tangos, aber nichts passierte. Später forderten wir sie auf zu tanzen, aber ohne Erfolg. Schliesslich mussten wir Pasodobles spielen, erst dann tanzten sie.« Erinnert ihr euch, was die argentinische Oberschicht vom Tango hielt? (siehe → hier)
Die nächsten Stationen waren Puerto Rico und Venezuela. In Caracas fragte er die Musiker, wer mit ihm nach Buenos Aires zurückkehren wolle und wer nicht. Fast alle entschieden sich, wieder nach Europa zu fahren. Jedenfalls finden wir Demare mit Fugazot und Irusta 1933 wieder in Spanien.
Ausflug ins Filmgeschäft mit seinem Bruder Lucas
Sein Bruder Lucas, der eine Zeitlang in Lucios Orchester gespielt hatte, ging nach dem Aufenthalt in Kuba zurück nach Spanien, wo er als Filmassistent an mehreren Filmen mitarbeitete. 1933 erschien der in Spanien gedrehte Film Boliche in den Kinos. Die Dreharbeiten hatten acht Monate gedauert, das Trio ist im Film zu sehen und zu hören. Lucio hatte neun Kompositionen beigesteuert, er selbst spielte die Rolle eines blinden Musikers. Sein jüngerer Bruder Lucas Demare, den er nach Paris geholt hatte, der aber 1927 aus Langweile nach Buenos Aires zurück gekehrt war, hatte dort bei Pedro Maffia Bandoneon gelernt. Als er zurück nach Paris kam, spielte er u.a. im Orchester von Manuel Pizzaro, und im Boliche-Film hatte er ebenfalls einen kurzen Auftritt. Er war fasziniert von der Filmarbeit. Dieser Film war der Ansporn, sich alle Kenntnisse des Filmemachens anzueignen. Lucas drehte später als Regisseur eigene Filme, mit denen er bekannt wurde und Preise gewann.
Reich wurden die beiden durch den Film nicht. »Der Film lief gut, aber wir erhielten kein Geld, weil der Verleiher alle Gewinne für sich selbst behielt.«
Die Arbeit seines Bruders Lucas Demare
Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, wurde Lucas von den ersten Scharmützeln des Krieges in Barcelona überrascht. Der argentinische Konsul bekam den Auftrag, alle Argentinier zu repatriieren. 1937, zurück in Buenos Aires, fand Lucas keine Arbeit, aber der Freund der Familie Demare, Francisco Canaro, gab ihm den Auftrag, einen Film für ihn zu drehen ›Dos amigos y un amor‹ (Zwei Freunde und eine Liebe), gefolgt von 24 horas de libertad (24 Stunden Freiheit). Danach folgten die Filme El hijo del barrio (1940), Corazón de turco (1940) und Chingolo (1941), das sein erster wirklich grosser Erfolg wurde. Im Film El viejo Hucha (1942) wurde Malena, der grosse Hit seines Bruders vorgestellt. Für den nächsten Film La guerra gaucha erhielt Lucas bereits mehrere Filmpreise.
In diesem Film, der von den Unabhängigkeitskämpfen 1817 handelte, wurde ein Dorf niedergebrannt. Da man es nur einmal niederbrennen konnte, musste von mehreren Kameraleuten, auch von Lucas, gleichzeitig gefilmt werden. Sie verkleideten sich als Gauchos und filmten sich gegenseitig. »Mitten im Feuer trug ein Windstoß das Feuer in Richtung Demare und liess seinen Bart und sein falsches Haar vollständig versengt zurück. In einer anderen Einstellung fungierte Demare als spanischer Soldat, der von den Gauchos angegriffen, einen Speer in die Brust erhält.« Der Schauspieler Magaña erzählt: »Ich warf den Speer über die Kamera auf ihn; er traf ihn mitten auf der Brust. Lucas hatte eine große blutunterlaufene Stelle, die später verbunden werden musste. »Schon wieder! Schon wieder! Ich dachte, ich würde ihn töten ... (Yo pensaba que lo iba a matar...)« Der Film wurde ein riesengrosser Erfolg.
Zurück in Buenos Aires
Gemäss eigenen Angaben war Lucio spätestens 1935 wieder in Buenos Aires (in manchen Biografien steht 1936). In seinem Interview erzählt er vom Einfluss, den de Caro auf ihn hatte:
»Aber die herausragende Grösse jener Zeit war Julio de Caro. Ich persönlich bewunderte seinen Bruder Francisco (der wie er Pianist war). Mir gefielen besonders gut Flores negras und Loca bohemia, ich folgte diesem Trend.«
Lucio verdiente sein Geld bei Canaro, er schrieb die Arrangements und leitete eines von mehreren Canaro-Orchester bei musikalischen Theater-Komödien.
1938 entschied er sich, ein eigenes Orchester zusammenzustellen.
»Ich glaube, es war die glücklichste Zeit in meinem Musikerleben. (Das Orchester) war ein gut eingespieltes, präzises Team. .. Mein Orchester war während zehn Jahren beliebt. Es war ein sehr gutes Ensemble. Ich war nicht kommerziell ausgerichtet, wir hatten (einen eigenen) Stil und Repertoire. Das führte dazu, dass ich mein Publikum hatte. Der Erfolg liess ab 1948 nach. Wir verloren unseren Programmplatz im Radio, und die Musiker sahen ein, dass Musik zu machen kein erfolgversprechender Weg war, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Dann begann ich als Solopianist zu arbeiten. Ich schrieb auch Filmmusik.«
Schaut man in den Unterlagen nach, sieht man, dass Lucio für sehr viele Filme (nicht nur für die seines Bruders) Filmmusik geschrieben hat. Laut Wikipedia beläuft sich die Zahl auf 52 Filme.
Seine letzte Aufnahme im Plattenstudio war bereits im Juni 1945 mit dem von ihm komponierten Tango Mas allá de mi rencor. Warum Odeon die Aufnahmetätigkeit nicht fortsetzte, ist unbekannt. Es ist bekannt, dass er und sein Orchester nach seiner letzten Schallplattenaufnahme 1945 noch eine Zeit lang bei Radio Splendid auftrat. 1948, nach der Auflösung seines Orchester, arbeitete er im Cambalache und begleitete Tania, die Frau von E.S. Discépolo. Zwei Jahre später wollte er sein eigenes Tango-Lokal eröffnen, zusammen mit Mercedes Simone. Das Projekt scheiterte, u.a. weil sie erkrankte, aber auch, weil seine Compagnons ihn im Stich liessen.
Es ist bekannt, dass er 1956 am Radio als Solopianist auftrat – manchmal im Zusammenspiel mit dem Bandoneonisten Ciriaco Ortiz oder mit seinem langjährigen Freund und erstem Bandoneonisten Máximo Mori.
Viele Jahre später konnte er nach harter Arbeit sein eigenes Lokal eröffnen. »Malena al Sur wurde 1969 eröffnet. Ich war sehr zufrieden, nach der harten Arbeit, die es mich gekostet hatte. Ich machte die Arbeit eines Maurers, ich war nicht mehr als ein weiterer Arbeiter. Von Beginn an lief es (das Lokal) gut, bis heute. Die Leute kommen, um mich zu hören.«
(aus dem Interview vom Januar 1974).
Die Musik
Das Orchester von Demare war beliebt und hatte einen hohen Bekanntheitsgrad, aber kommerziell war es nicht allzu erfolgreich. In den Jahren 1938 - 1945 nahm er nur 65 Titel auf Schallplatte auf. 1938 erging es ihm wie Tanturi – er durfte bei Odeon nur zwei Platten, d.h. vier Titel aufnehmen. Im Gegensatz zu Tanturi und Troilo wechselte er aber nicht zum Konkurrenten RCA Victor, sondern blieb bei Odeon. Dort durfte er erst im Oktober 1941, also nach einer über zweijährigen Pause die nächste Aufnahme machen. Für dieses Verhalten des Schallplattenkonzerns finden sich keine Erklärungen oder Hinweise. Ebenso ist unklar, warum das Orchester nach 1945 keine Aufnahmen bei Odeon mehr machte. Er wechselte zu Columbia, wo er nach einer fünfjährigen Aufnahmepause erst 1950 wieder die nächste Platte einspielen konnte.
Die bekanntesten von Demare komponierten Tangos sind Telón, Mañana zarpa un barco, Solamente ella, Tal vez será su voz (mi alcohol) und natürlich das wunderbare → Malena (mit J.C. Miranda).
Er erzählt, wie er komponierte: »Ich zog es vor, anhand bereits vorliegender Texte zu komponieren. Ich hatte diese Fähigkeit. Die Musik von Malena komponierte ich innerhalb 15 Minuten. (Der Dichter Homero) Manzi hatte mir die Lyrik 10 Tage zuvor gegeben. Ich sagte zu mir selbst: ›Wenn Manzi heute Abend kommt, will ich ihm wenigstens zeigen, wie der Tango beginnt.‹ Dann setzte ich mich in ein Café und schrieb die Melodie von Anfang bis Ende nieder, ohne etwas auszubessern und ohne irgendetwas zu ändern.«
Bei Homéro Manzi (mit dem er oft zusammenarbeitete) war es ähnlich: dieser setzte zuerst den Titel, und erst danach entwickelte er das Gedicht. Demare bedauert, dass es zu keiner Zusammenarbeit mit E.S. Discépolo kam. Aber der wollte zuerst die Melodie haben: »Wenn ich nicht zuerst die Musik habe, kann ich es nicht.« Ebenso wenig kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Dichter Celedonio Flores.
Weitere herausragende Interpretationen seines Orchesters sind nach meinem Verständnis → Oigo tu voz (Ich höre deine Stimme, auch Tanturi gleiches Jahr), → Que solo estoy; → Moneda de cobre, und vielleicht die beste → No te apures Carablanca – Beeil dich nicht, Weissgesicht (mit J.C. Miranda).
Wer ist das besungene Weissgesicht? Später im Text wird ein Kutschbock erwähnt, der Name ist also für ein Pferd mit weisser Blesse.
Beeil dich nicht, Weissgesicht..
Denn wenn ich ankomme, bin ich allein...
Und die Nacht bricht herein,
Und in ihren Schatten tun die Erinnerungen noch mehr weh.
Es engt mein Herz ein, aus dem Hof rauszufahren,
Weil ich mich verloren weiss.
Mich verführt die Illusion,
die die Kneipe bietet in ihrem Glas des Vergessens.
Schnaps* im Kummer, eine Flamme, die mich verbrennt,
Ein Übel, das nicht hilft, Kummer, der grösser wird.
Immer dasselbe, ich komme, um sie zu vergessen,
Und von Schnaps zu Schnaps erinnere ich mich mehr an sie.
* Cana - eigentlich ein Trinkgefäss für Bier oder Wein
(Übersetzung von E. Haerter ›100 Tangos von Homero Manzi‹ 2007)
Man muss dieses kleine Kunstwerk mehrmals hören, um auf all die Feinheiten achten zu können: z.B. das Klavierspiel, das sich nicht in den Vordergrund drängt, aber immer wieder mit rhythmischen Überraschungen und einem guten Timing aufwartet. Mit Timing meine ich die kleinen jazzigen Verzögerungen. Das Stück fängt überraschend an mit Klavier und Bass, die gezupft von den Violinen begleitet werden, wobei ein recht komplexer Rhythmus gesetzt wird. Bei ca. 0.05 die ersten Klavierakkorde, gefolgt von einer kurzen Bandoneonpassage, begleitet vom arrastre der Violinen. Bei 1.24 die warmen Violinenglides, die dann bei etwa 1.42, nachdem der Sänger wieder eingesetzt hat, zusammen mit dem Bass gezupft (pizzicato) das Klavier begleiten. Dann verschwindet das Klavier ganz, um bei 1.56 mit Akkorden wieder Rhythmus zu setzen. Miranda singt die Melodie, die Geigen umspielen ihn in höheren Lagen, das Klavier setzt weiter Rhythmus. Bei 2.17, in der kurzen Gesangspause, eine dynamische Aufwärtsbewegung von allen Instrumenten, danach wieder das rhythmisch begleitende Klavier und die Geigen, die mit starkem arrastre den Rhythmus unterstützen. Bei ca. 2.33 die nächste kleine Gesangspause, der Übergang ist hier ganz anders gestaltet als bei 2.17. Bei 3.10 der hohe Decrescendo-Ton der Violinensektion, während in den unteren Registern der Bass und das Klavier hämmert. Bei 3.12 wird das Thema von den Instrumenten wieder aufgenommen; ein sehr kurzer Bandoneon-Einschub, bevor Bass, Klavier und die Violinen mit arrastre bis zum Ende spielen.... Ein Meisterwerk mit vielen musikalischen Ideen!
Nehmen wir zum Vergleich eines der besseren Stücke von Francisco Canaro aus dem gleichen Jahr: das von Pedro Laurenz komponierte → Es mejor perdonar (mit Eduardo Adrian). Dies soll nur zur Veranschaulichung dienen, wie feingliedrig Demares Klavierspiel und das ganze Arrangement ist im Vergleich zu Canaros Art und Weise – und das, obwohl Laurenz‘ Komposition bereits eine recht komplexe Vorlage für Canaro liefert. Ein deutscher Verfasser meint auf seiner Webseite: »Demares Musik basiert auf einem insgesamt stetigen Compás.« Mit dieser Aussage greift er daneben, denn gerade bei Demare trifft dies nicht zu; ›Carablanca‹ zeigt dies eindrücklich. Wenn es jemanden gibt, der (auch nach 1938) einen ‘stetigen Takt‘ pflegt, dann war es vor allem Canaro.
Weit interessanter ist der Vergleich mit Troilos Interpretation von → No te apures Carablanca (mit Fiorentino). Eine ebenbürtige Version mit einem recht anderen Arrangement, die für mich durch den emotionaleren Gesang von Fiorentino gewinnt (in allen YouTube-Versionen leider mit Hall und Raumklang. Wenn Du das Stück ohne diesen akustischen Murks hören willst, dann greife zur Überspielung von TangoTunes).
Die wichtigsten Sänger des Demare-Orchesters sind: Juan Carlos Miranda, Raul Berón und Horacio Quintana. Der bekannteste ist Raul Berón, der im Januar 1943 von Caló zu Demare wechselte. Mit ihm spielte er die gefühlvoll arrangierten Erfolge Tal vez será su voz (mi alcohol) oder Oigo tu voz (Ich höre deine Stimme) ein. 1942 ist auch Roberto Arrieta (der ab 1945 im Orchester von Miguel Caló singt) mit wenigen Aufnahmen zu hören.
Was sind die Besonderheiten von Demares Orchester?
Lucio führte das Orchester vom Klavier aus, und so ist das Klavierspiel, das wir hören, immer von ihm. Er stellte sein Klavierspiel nicht in den Vordergrund, sondern in den Dienst des gesamten Arrangements. Wenn wir genau hinhören, können wir ein gutes Timing ausmachen – diesen kurzzeitig ganz leicht versetzten Takt, wie wir es auch im Jazz hören können.
Demare hatte auch den Mut zu schrägen Harmonien. Hören wir in eine seiner ersten Schallplattenaufnahmen von 1938 hinein → Din don (mit Juan Carlos Miranda). Vom Text her ist es ein weiteres Herzschmerzstück. Das Stück kommt sehr rhythmisch daher, es überrascht gleich am Anfang mit ungewöhnlichen Harmonien, um dann in üblichen Tangostrukturen weiterzumachen.
1943 kam eine weitere ungewöhnliche Aufnahme heraus → Alhucema (mit Horacio Quintana). Wir können die für den Tango eher exotischen Harmonien deutlich nach der ersten Minute hören. In einer Besprechung wird von ›orientalischen‹ Einflüssen gesprochen. Vom Text her hat das Stück jedoch nichts mit dem Orient zu tun, sondern hat den Tod einer schwarzafrikanischen Trommlerliebe zum Thema. »Negra macumba que zumba el tambor – Trommelschlagende, schwarze, magische Frau...«
Interessant ist der Vergleich zu der → Einspielung von Troilo, die er im folgenden Jahr mit Alberto Marino machte. Sie kommt es langsamer, getragener daher. Die Demare-Interpretation finde ich dramatischer, dem Text angepasster.
Die meisten meiner Leser wissen, dass ich den Tango-Formationen heutiger Zeit eher kritisch gegenüber stehe – aus dem einfachen Grunde, dass diese selten an die musikalische Klasse der Orchester der Epoca de Oro herankommen. In der Regel ist das Original besser zum Tanzen als die nachgespielte Version heutiger Formationen. Hier eine für mich positive Überraschung: das → Cuarteto Soltango, das mit ihrer Interpretation von Alhucema weitgehend dem Arrangement von Demare folgt.
Eine besondere Klasse sind Demares anspruchsvollen Milongas und Candombes. Diese sind meistens in schnellem Tempo gespielt. Für mich an vorderster Stelle stehen die Candombes → Carnavalito und Negra Maria, aber auch Tortazos (von Pugliese zwei Jahre später aufgenommen) und → Milonga en rojo mit gebrochenem Rhythmus.
Demares Stil variiert zwischen 1938 und 1945 nicht allzu gross, wenn auch die frühen Kompositionen rhythmischer gespielt wurden. Ab 1942 wird sein Stil weicher und romantischer. Einen wichtigen Anteil am Orchesterklang hat der hervorragende Geiger Raúl Kaplún, der früher bei Miguel Caló spielte, und von 1942 bis 1946 Teil von Demares Orchester war. Er hat manche Komposition beigesteuert.
Demares Orchester ist, trotz seinen Jazz-Erfahrungen in frühen Jahren, ein reines Tango-Orchester. Wir finden in seiner Aufnahmeliste keine Foxtrots (dieser Begriff stand auf den Etiketten, wenn Jazz gemeint war), aber auch keine Polkas, Pasodobles oder anderes. Wir finden gerade mal sechs Instrumentaltitel bis 1945, die meisten seiner Aufnahmen sind mit Gesang,.
Wie kann man Demares Musik beschreiben? Musik in Worte zu fassen ist nicht einfach – irgendwie fehlen uns die treffenden Bezeichnungen für dieses Medium. Wenn wir die Aussagen von anderen Rezensenten anschauen, sehen wir, dass auch sie offensichtlich ihre Schwierigkeiten haben.
In der spanischen Wikipedia heisst es: ».. zeichneten sich durch ihre erhabene Lyrik und ihren melodischen Reichtum aus.« Und ML meint, dass man bei Demare den Einfluss des neapolitanischen Gesangs hören könne. Die Lyrik sei auf dem Höhepunkt mit dem Sänger J.C. Miranda, dabei wird die Komposition Malena angeführt.
Immer wieder fällt das Wort ›lyrisch‹ im Zusammenhang mit Demares Ochester. Die Frage, die sich gleich stellt: inwiefern ist die Lyrik oder die Musik lyrischer als bei anderen Orchestern und Kompositionen jener Zeit? Das ist nicht einsichtig.
David Thomas (S. 150) beschreibt Demare so: »Der Aufbau ist ähnlich zu dem von Caló – Demares Ausbrüche der Staccato-Violinen sind nicht nur kurz und scharf wie bei Caló, sondern diese haben einen oft rauhen Ton, der weniger rein ist.«
Für mich kommt das Besondere des Klangs v.a. aus der Art, wie die Violinen gespielt und eingesetzt werden, und deshalb ist das Orchester von Demare für mich recht gut zu erkennen. Die Bandoneons spielen in Demares Arrangements eher eine untergeordnete Rolle – sie werden recht zurückhaltend eingesetzt.
Das Beste ist, Du hörst selber in die angeführten Musikbeispiele hinein und vergisst die Beschreibungen. Achte stattdessen auf die vielen kleinen Feinheiten in Demares Arrangements – sie sind vielfältig. Es lohnt sich.
Bailemos Tango !
Tango-DJ Michael KI im November 2020 (Übersetzungen aus dem Englischen vom Verfasser)
Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen
zusätzlich: – https://www.todotango.com/english/history/chronicle/80/Demare-Interview-to-Lucio-Demare/
– https://www.todotango.com/english/history/chronicle/514/Orquesta-Tipica-Lucio-Demare/
– https://www.todotango.com/english/artists/biography/1085/Lucio-Demare/
– https://www.todotango.com/english/artists/biography/1402/Lucas-Demare/
– Discographie: https://milongandoblog.wordpress.com/2018/06/21/lucio-demare-discografia/