Das Orchester von Edgardo Donato war in mancher Hinsicht
ein aussergewöhnliches Tango-Orchester.
Wenn wir in die Zeitspanne um 1933/34 schauen: Fresedo hatte vom alten Stil mit seinem Sänger Roberto Ray bereits zu einem weichen, melodiösen Stil gewechselt. Juan d‘Arienzos ›Tango-Revolution‹ sollte erst in ein-zwei Jahre stattfinden.
– Der Tango sei “..un pensamiento triste que se baila” – ein trauriger, getanzter Gedanke“ ? Nicht so bei Donato, der bis auf zwei-drei Tangos mit ernstem Inhalt in seiner Musik eine helle, verspielt-fröhliche Grundstimmung hatte.
– Juan d‘Arienzo soll der erste gewesen sein, der mit einem schnellen Stil die Tänzer auf die Tanzfläche zog? Dann hör hinein in diese Aufnahme von Donato ab 1932 (→ El acomodo, El huracán, → Esto es el colmo). Ähnlich wie d‘Arienzo hören wir im Violinenpart oft die tiefste Saite (in El acomodo z.B. bei 0.54). Gut möglich, dass Edgardo mit seiner Spielweise Juan d‘Arienzo inspirierte.
– Der gesungene Tango sei eine Domäne männlicher Sänger? Ab 1939 setzte Donato, ungewöhnlich für diese Periode, die Sängerin Lita Morales ein.
– Auch wenn es früher bereits Gesang-Duette gab, so war Donato einer der ganz frühen (ab 1935), der mit zwei Sängern, ab 1939 auch in Kombination mit einer weiblichen Stimme, Aufnahmen machte. Troilo (1943) und De Angelis (1944) folgten mit den Duetten erst später. Noch ungewöhnlicher, bei Donato gab es auch Gesang-Trios mit Horacio Lagos, Lita Morales und Romeo Gavioli.
– Die Zeitspanne des Erfolges dauerte nur bis Ende 1942 – einem Zeitpunkt, als viele Tango-Orchester ihre beste Zeit erst noch vor sich hatten. Auf das frühe und überraschende Auseinanderbrechen seines Orchesters kommen wir noch ausführlicher zu sprechen.
Edgardo Felipe Valerio Donato wurde im gleichen Jahr geboren wie Osvaldo Fresedo und hatte das Glück, in einer musikalischen Familie aufzuwachsen. Die Familie wechselte, als er noch Kind war, von Buenos Aires auf die andere Seite des Rio de la Plata nach Montevideo. Vater Ernesto, ein italienischer Einwanderer, war Musiker, spielte Mandoline, wechselte später zum Violoncello und leitete ein Kammerorchester in Montevideo. Er war verheiratet mit Egilda, die ihm neun Kinder gebar. Drei der Kinder konnten die Musikschule besuchen und wurden Musiker: Edgardo spielte Violine, Osvaldo wurde Pianist, und Ascanio wandte sich wie sein Vater dem Cello zu. Edgardo studierte am Franz-Liszt-Konservatorium, dem Wunsch seines Vaters folgend fing er als Musiker bei der Oper an.
Doch bald wandte er sich anderen Musikrichtungen zu. 1919 wurde er Mitglied des Jazz-Orchesters von Carlos Warren. Bei einigen Auftritten wechselte sich das Orchester mit dem von Eduardo Arolas ab, dabei lernte er den Geiger Roberto Zerrillo kennen. 1927 tat er sich mit Zerrillo zusammen und gründeten in Montevideo das Donato-Zerrillo-Orchester mit dem Namen ›9 Ases del Tango‹. Sie hatten einen guten Start mit regelmässigen Vorstellungen in Buenos Aires, Radioauftritten bei verschiedenen Sendern und ab 1930 einen Plattenvertrag bei Brunswick. Der Sänger Luis Díaz schloss sich dem Orchester als Estribillista an. Die damals äusserst bekannte Sängerin Azucena Maizani liess sich von diesem Orchester begleiten. Zerrillo folgte Maizani, zu der er romantische Gefühle entwickelt hatte, auf eine Tour nach Europa und verliess 1930 das Orchester.
Edgardo Donato stellte im gleichen Jahr sein eigenes Orchester zusammen, mit seinen jüngeren Brüdern Osvaldo am Klavier und Ascanio am Cello, und nannte es ›Edgardo Donato y sus Muchachos‹. Die Musik hatte mehr Dynamik, die einzelnen Instrumente bekamen mehr solistischen Platz, sein Musikstil wurde freier und fröhlicher und hatte einen ausgesprochen tanzbaren Stil. Als Brunswick in Folge der Weltwirtschaftskrise den Betrieb in Argentinien einstellte, wechselte Donato Ende 1932 zu Victor. Seine erste Schallplatte bei Victor war im Dezember 1932 der von ihm komponierte, dynamisch gespielte Tango → El huracán (mit Félix Gutiérrez), auf der B-Seite eine Ranchera.
Edgardos Orchester war kein reines Tango-Orchester, neben Tango, Milonga und Vals nahm es einige ›Otros Ritmos‹ auf wie Paso doble, Marcha, Maxixe, Polca, viele Rancheras, selbst einen Fado finden wir in der Aufnahmeliste. Auch nach seinem Wechsel zu Victor sind ein grosser Teil seiner Aufnahmen solche ›Otros Ritmos‹.
Edgardo reizte die Grenzen seines Instruments meisterhaft aus und überraschte (wie später Jimi Hendrix) die Leute mit ungewöhnlichen Spieltechniken – Francisco Canaro berichtet, dass er ihn in den 20er Jahren gesehen hatte, wie er die Violine hinter seinem Kopf zupfte, oder wie er sie in die Luft warf, wieder auffing und weiterspielte, ohne den Takt zu verlieren. Michael Lavocah berichtet von einem anderen Zeitzeugen, der Donatos grosse Spielfreude beschreibt: Bei einem Auftritt zertrümmerte er, natürlich im Takt, mit dem Geigenbogen die Glühbirnen der Beleuchtung am Bühnenrand – diese Beschreibung erinnert mich unwillkürlich an die enorme Spielfreude von Fred Astaire und an seine berühmte Golfszene.
Man sieht das Orchester von Edgardo Donato → im Film Tango! von 1933, dem ersten Tonfilm in der Geschichte des argentinischen Kinos, zusammen mit anderen Grössen des Tango. Donato komponierte auch für die Filme Riachuelo (1934), Picaflor (1935) und Así es el Tango (1937) die Musik.
Seine Sänger bei Brunswick waren die zu jener Zeit bekannten Estribillistas Luis Díaz, Antonio Rodríguez Lesende, Carlos Viván und Teófilo Ibáñez. Nach seinem Wechsel zu RCA Victor waren es bekannte Grössen wie Félix Gutiérrez, Antonio Maida (ab 1934), Hugo del Carril, der später v.a. als Filmschauspieler berühmt werden sollte, und Juan Edelmiro Alessio, der den schönen Tango → Diós lo sabe aufnahm, den Gardel bekannt gemacht hatte. Dieser den meisten vermutlich unbekannte Juan Alessio änderte 1939 seinen Namen und hatte seine beste Zeit bei Rodolfo Biagi als Jorge Ortiz. Ein anderer Name, der in den Aufnahmelisten immer wieder mal auftaucht, ist Randona. Das ist keine Sängerin, sondern das Pseudonym für seinen Mitmusiker Armando Julio Piovani, der bei 24 Aufnahmen als zweite Stimme mitwirkte.
Mitte 1935 verpflichtete Edgardo den Sänger Horacio Lagos, 1939 stiess dessen Frau Lita Morales zum Orchester, was in jener Zeit ungewöhnlich war – alle anderen bekannten Orchester hatten männliche Estribillistas. Ende 1939 kam als weiterer Sänger Romeo Gavioli (auf den Plattenetiketten als R. Gavio vermerkt), seine erste Aufnahme war der beschwingte Vals → Noches correntinas im Duett mit Horacio Lagos, wo auch das Akkordeon von Bertone gut zu hören ist. Bereits im Januar 1940 folgte das erste gesungene Trio mit Lagos, Morales und Gavioli. Hör hinein in → Carnaval de mi barrio, wo Lita die führende Stimme ist. Donato nahm sich einige Freiheiten und bewegte sich ausserhalb der damaligen Tango-Hörgewohnheiten.
Sonst war Edgardo vom Typ ›liebenswürdiger und zerstreuter Professor‹ mit seinen Gedanken oft in anderen Gefilden. Die Erzählungen über seine Zerstreutheit waren berühmt – manche davon sollen erfunden sein. Lavocah berichtet davon, dass Donato in der Strassenbahn sass und einen jungen Mann mit einem Geigenkoffer sah. »Entschuldigen Sie, junger Mann, spielen Sie in einem Orchester?« — »Ja, Maestro, in ihrem.«
Diese Geschichte wurde von seiner Tochter erzählt: Donato traf einen Freund im Tram, sie verloren sich in einem Gespräch, und nach einiger Zeit stiegen beide aus. Sie gingen eine Weile spazieren, bis Edgardo aufmerkte, dass seine Frau immer noch in der Strassenbahn sass. Die Geschichte ähnelt der, wie sie über Troilo erzählt wurde.
Donato als Komponist
Edgardo war ein kreativer Komponist, der, auch in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Osvaldo, mehr als zweihundert Titel schuf. Sein vermutlich bekanntester Titel ist A media Luz, den er, wie er erzählte, während einer Strassenbahnfahrt komponiert hatte. In umschreibenden Worten werden zwei "Orte der Liebe" ›im Schummerlicht‹ (Bordelle) beschrieben, und in einem (oft nicht gesungenem Vers) die Droge Kokain erwähnt (... como en botica... coco, alfombras que no hacen ruido y mesa puesta al amor — Kokain wie in einer Drogerie, Teppiche, die kein Geräusch machen, und alles vorbereitet für die Liebe). Dieser Tango wurde von einer Vielzahl von Orchestern interpretiert. Er wurde zuerst von Canaro 1926 instrumental aufgenommen, bereits 1927 folgten die gesungenen Versionen (Lyrik von C. C. Lenzi). Der Tango ging um die Welt, Bianco-Bachicha machten ihn in Europa bekannt, renommierte Orchester wie die von Marek Weber und A. Lutter nahmen ihn auf. Donato selbst spielte ihn erst → 1941 (und nochmal 1950) ein. Eine besondere Erwähnung verdient die japanische Sängerin → Ranko Fujisawa, die für ihre Interpretationen auch im Herkunftsland des Tango Anerkennung fand.
Weitere bekannte Titel aus seine Feder sind → Se va la vida (1929 & 1936), El huracán (Donato 1932, d‘Arienzo 1944), T.B.C. (1928 di Sarli, ein Titel, der sich auf einen bekannten Club in Montevideo bezog); das vorzügliche → Mi serenata (1940); Bigotito (von Lomuto, di Sarli und Fresedo aufgenommen) und das bereits erwähnte El Acomodo (Canaro & Donato, beide 1933. Interessant der Vergleich mit Donatos → 1952-Version).
Musikalische Perioden
Donatos musikalisches Schaffen kann in mehrere Perioden unterteilt werden. In der frühen Periode bis etwa 1932 spielte er im alten Stil auf dem Niveau der bekannten Orchester jener Zeit. In dieser Zeit lassen sich einige bezaubernde Tangos finden – ich schlage Dir vor, in das kraftvoll gespielte → Adelina von 1930 mit Luis Díaz, hineinzuhören, mit einer gekonnten Bandoneon-Variación gegen Ende. Weitere hörenswerte Titel aus jener Zeit sind (als kleine Auswahl) Felicia, Buena yunta, Desertora.
— Ab Ende 1932 änderte sich der Stil, er wurde dynamischer. Hör hinein in die bereits erwähnten El acomodo und El huracán.
— Mit dem Einsatz eines Akkordeons ab 1934 wurde der Orchesterklang heller. Es wurde gespielt von einem Jüngling von damals gerade mal 13 Jahren, Osvaldo Bertone, genannt Bertolín. In den frühen Aufnahmen höre ich jedoch das Instrument kaum heraus, während es in den folgenden Jahren näher ans Mikrofon rückte und der Akkordeonklang zu einem Charakteristikum von Donatos Orchester wurde.
— 1935 folgte die Verpflichtung von Horacio Lagos, und 1939 von Lita Morales und Romeo Gavioli, was zu Duetten und Trios führte.
— Im August 1942 endete die Erfolgsstrasse in einer Sackgasse, als dieses beliebte Orchester unter ungeklärten Umständen auseinanderbrach.
— Die Brüder und Edgardo und Osvaldo Donato machten mit zwei verschiedenen Orchestern weiter. Im Vergleich zu den Aufnahmen der früheren ›Muchachos‹ drücken die neuen Aufnahmen eine andere, weniger fröhliche Stimmung aus. Edgardo Donato machte seine letzten Aufnahmen 1961 und verstarb zwei Jahre später.
Eigenheiten seines Orchesters und Musikstils
Die enorme Spielfreude und den fröhlichen Charakter haben wir schon erwähnt, ebenso sein rhythmusbetontes Spiel. Etwas, was wir bei ihm oft hören können, sind seine Pizzicati, wobei die Saiten wie im europäischen Stil einzeln gezupft werden, aber auch wie bei einer Gitarre, wo mehrere Saiten gleichzeitig geschlagen werden. Ein gutes Beispiel ist der Instrumentaltango → Tierrita von 1934 mit vielen rhythmischen Spielereien, Klangfarben, Synkopierungen, ausgiebigen Pizzicati und Percussion auf den Instrumenten.
Die Liste empfehlenswerter Interpretationen seines Orchesters würde bei mir recht lang ausfallen. Herausragend sind für mich bei den Tangos v.a. → La Melodia del corazon (1940, mit Gavioli), Mi serenata (1940, Duett mit Morales & Gavioli) und → Te busco (1941, mit Horacio Lagos). Die mit grosser Spielfreude interpretierten Valses sind ein Vergnügen, so z.B. das bereits erwähnte Noches correntinas, La Tapera, Con tus besos und Estrellita mia (mit Gesangs-Trio; Canaro folgte mit seiner Aufnahme einen Monat später). Auch seine Milongas sollten nicht vergessen werden, wie z.B. das 1937 in verhaltenem Tempo eingespielte Papa calientes, das mitreissende Sentir del corazon (1940) und seine Interpretation des von Rodolfo Biagi 1939 eingespielten → Campo afuera.
Um die unterschiedlichen Interpretationsweisen der verschiedenen Orchester mit der von Edgardo Donato zu vergleichen, empfehle ich den Instrumentaltango Chiqué, der infolge des Lunfardo-Verbotes später in El Elegante umbenannt wurde. Hier die Aufnahme von → Donato von 1936. Hör hinein in die Versionen von → de Caro 1930, → d‘Arienzo 1942, → Troilo 1944 und → Maderna 1946. Ein weiteres Beispiel für die enorme Kreativität der Tango-Orchester bei der Umsetzung der gleichen Komposition.
Wie mir ein älterer Tango-DJ aus Argentinien erzählte, werden die Aufnahm en von ›Edgardo Donato y sus Muchachos‹ in Buenos Aires, ähnlich wie bei Enrique Rodriguez, weit seltener gespielt als in Europa. Wie bei Rodriguez gab es auch hier eine nachträgliche Rückkoppelung von Europa nach Argentinien. Bemerkenswert ist, dass die in Europa gerne gespielten, schwungvollen Interpretationen von Donato in der Tangoszene von Buenos Aires lange völlig untervertreten waren. Laut einem Informanten gab es erst ab dem Jahre 2000 eine CD, davor existierte nur eine (!) LP.
Auch wenn es bei den Donato-CDs nicht die akustischen Grauslichkeiten wie bei den Fresedo- und Troilo-Überspielungen mit Hall, Pseudostereo und andere Verschlimmbesserungen gibt, so empfehle ich dennoch TangoTunes und TangoTimeTravel (dort Aufnahmen erst ab 1940) – es sind meines Wissens die besten erhältlichen Transfers dieses Orchesters.
Exkurs Osvaldo Bertone, genannt Bertolín
Osvaldo Bertone, geboren am 2.9.1921, war der frühbegabte Sohn piemontesischer Eltern, die auf ihrem Hof Obst anbauten. Er verliebte sich mit vier Jahren in den Klang des Akkordeons eines Landarbeiters, der auf dem Hof seiner Eltern arbeitete. Seine Eltern kauften ihm das Akkordeon, und er begann, italienische Lieder nach Gehör zu spielen.
Die Familie Bertone hatte Pech und wurde von skrupellosen Leuten auf das Übelste betrogen. Sie mussten ihr Gehöft mit dem Obstanbau verlassen. Bertolíns Vater musste als Portier arbeiten, seine Mutter als Köchin, und Bertolín, der sich bei verschiedenen Lehrern auf dem Instrument weitergebildet hatte, musste mit acht Jahren ebenfalls zum Unterhalt der Familie beitragen. Zuerst in Lokalen der Gegend von San Fernando, wo die Familie hingezogen war, bis Leute, die auf sein Talent aufmerksam wurden, ihn nach Buenos Aires holten.
Als Edgardo Donato zusätzlich zu den vier Bandoneons den Orchesterklang mit einem Akkordeon erweitern wollte und einen Akkordeonisten für sein Orchester suchte, stellte sich Bertolín vor, doch als Edgardo den erst 13-jährigen Bubi in kurzen Hosen sah, zögerte er verständlicherweise. Donato fragte, ob er Noten lesen könne, was der Jüngling bejahte. Jedenfalls war Donato vom Vorspiel so beeindruckt, dass er es mit dem Jungen versuchte. Mit der Zeit bekam das Akkordeon einen immer grösseren Platz in den Arrangements und im Orchesterklang. Osvaldo Bertone blieb acht Jahre bis in den August 1942. Die letzten Aufnahmen mit Bertolín waren der Tango → Lonjazos und der Vals → Mendocina, wo das Akkordeon von den ersten Takten an hervorsticht.
Nach dem Auseinanderbrechen des Orchesters spielte Bertone bei verschiedenen Ensembles, in Nachtclubs und Confiterias und für verschiedene Radiostationen. Zusammen mit Martín Washington García gründete er im Dezember 1942 das Jazz-Sextett »Washington - Bertolín« und widmete sich von da an dem Jazz. Die Formation war äusserst beliebt und nahm bereits ab Februar 1943 für Odeon auf. 1945 verstarb Washington García. Mit Erlaubnis der Witwe benutzte Osvaldo Bertone von da an den Namen Washington Bertolín (ohne Bindestrich) als sein neues Pseudonym, tourte durch Südamerika und war bis in die 60er Jahre erfolgreich.
Das überraschendes Auseinanderbrechen des Orchesters 1942 – und das Entstehen einer weiteren Tango-Legende
In verschiedenen Biographien wird geschrieben, dass das Orchester nach dem Ausscheiden von Osvaldo Bertone auseinanderfiel, dass Edgardo angeblich von der Bildfläche verschwand und sein Bruder Osvaldo mit den bisherigen Musikern weiter machte.
Über den Grund dieses Auseinanderbrechens ist wenig Verlässliches bekannt. Dafür gibt es eine recht gewagt-fantasiereiche Geschichte, wobei als Hauptgrund ein Dreiecksverhältnis von Lita Morales, Horacio Lagos und Romeo Gavioli vermutet wird. In der nachträglichen Dramatisierung sinkt die Geschichte teilweise auf das Niveau der Regenbogenpresse. »Hat Prinzessin Caroline mit ihrem Tennislehrer geschlafen?« Und kaum hat sie an einem Abend etwas mehr gegessen und es zeigt sich der Ansatz eines Bäuchleins, wird gleich gemutmasst: »Ist sie vom Französischlehrer schwanger?«
Bleiben wir lieber bei den Tatsachen, bevor wir die dramatisierten Mutmassungen genauer anschauen.
— Die meisten der ›Muchachos‹ machten mit Edgardos Bruder Osvaldo weiter, ebenso der Sänger Horacio Lagos, aber ohne seine Frau Lita. Dieses Orchester war anfangs recht erfolgreich, mit einigen hochkarätigen Auftritten (beginnend mit einem zehnwöchigen Engagement in der Bar El Nacional) und Radiosendungen im Jahr 1944. Trotzdem gibt es keine Aufnahmen von diesem Orchester. Um 1945/47 verlor Osvaldos Orchester gemäss Michael Krugman an Bedeutung und Beliebtheit.
— Jedoch war Edgardo Donato keineswegs verschwunden, war aber für den Rest des Jahres ‘43 und das ganze Jahr ‘44 nicht mehr so aktiv wie sonst. Auf der Aufnahmeliste sehen wir, dass es ab August 1942 bis in den März 1944 keine Aufnahmen gibt – und das bei einem beliebten Orchester, das 1940 16 Titel, und 1941 14 Titel aufnehmen konnte. Dieser Umstand sollte den Tango-Historikern zu denken geben. Ist es möglich, dass ein Grund für das Auseinanderbrechen des Orchesters Querelen mit der Schallplattenfirma sind?
— Erst nach langer Pause kehrte Edgardo mit neuen Sängern in das Aufnahmestudio zurück. In den beiden Jahren von 1944-45 nahm er nur 6 Titel auf, wobei die Milonga El lecherito noch die beste ist. Seine Musik hatte nicht mehr denselben Elan der alten ›Muchachos‹ und konnte nicht mehr an die früheren grossen Erfolge anknüpfen. Dennoch hatte Edgardo Donato einen starken Auftritt beim Carnaval und trat häufig im Radio El Mundo auf. Gleichzeitig gründete er im Mai 1944 ein Cuarteto im Stil der Guardia vieja, ›Los Caballeros del Recuerdo‹ mit bekannten Musikern wie Anselmo Aieta (Bandoneon), Francisco Pracánico (Klavier) und Domingo Donnaruma (Violine).
Gemäss Michael Krugman war Edgardos Orchester immer noch populär, besonders beim Carnaval, als er und Julio de Caro für eine Tanzveranstaltung im Círculo General General Urquiza auftraten, die von 5000 Menschen besucht wurde. Noch 1947 war er die Hauptattraktion bei den acht Nächten der Carnaval-Tänze im Racing Club, wo er mit seinen neuen Sängern Roberto Beltrán und Osvaldo Morel, im riesigen, 6000 Quadratmeter grossen Anbau des Clubs auftrat. Fussballvereine wie Racing waren auf die Einnahmen aus den Carnaval-Tänzen angewiesen, um überleben zu können; sie konnten es sich nicht leisten, ein Risiko mit einem zweitklassigen Orchester einzugehen. Und 1948 trat er im Film Pelota de trapo auf, der ein grosser Publikumserfolg war.
Mitte 1945 bricht Edgardos Aufnahmetätigkeit ab, obwohl er auch nach 1945 beim Publikum beliebt und erfolgreich war. Auch das deutet auf Differenzen mit der Plattenfirma hin. Auffällig ist, dass es erst ab 1950 wieder Aufnahmen (immer noch auf Schellackplatten) von ihm gibt, und das vermutlich nur, weil es mittlerweile die Schallplattenfirma Pampa gab. Aber die musikalische Qualität und die unverkennbare Spielfreude von früher war nicht mehr da. Ich finde diese Aufnahmen, im Vergleich zu den früheren, langweilig. Es verwundert nicht, dass Donatos späte Aufnahmen fast nie an heutigen Milongas gespielt werden.
— Lita Morales verschwand nach ihrer letzten Aufnahme bei Donato im August 1941 (Mañana será la mía) von der Tangoszene und machte erst nach vierzehn Jahren 1955 und ‘56 sieben Aufnahmen, u.a. im März 1956 das weiter unten erwähnte Comadre.
Was passierte mit dem Sänger Romeo Gavioli nach der Orchester-Auflösung?
Gemäss der Biographie von R. García Blaya war Romeo Gavioli (1913-1957) »einer der besten Tangointerpreten, die am östlichen Ufer des Río de la Plata geboren wurden. .. Seine Stimme drückt durch eine zarte Phrasierung und eine exquisite Musikalität ein introspektives Gefühl aus.« Gleichzeitig war er ein begabter Violinist.
»Im September 1934 trat in Buenos Aires ein neues Orchester unter der Leitung von Héctor Gentile (im París Cinema Theater in dem Stück Ya tiene comisario el pueblo) auf. Laut Gentile war Romeo Gavioli die Hauptattraktion der Gruppe, indem er grosse Künstler so gekonnt imitierte, dass die Gruppe aufgelöst werden musste, als Gavioli aus familiären Gründen nach Montevideo zurückkehrte.«
1935 bildete er das Trio Los Carves, das mit einem Violinisten verstärkt bei den Radiosendern Rivadavia, Belgrano und Prieto auftrat.
Im November 1939 kam Romeo Gavioli zum Orchester von Edgardo Donato. Dort wurde sein Nachnamen (vermutlich auf Betreiben der Plattenfirma) auf Gavio verkürzt. Die meisten der von ihm aufgenommenen Nummern, insgesamt 15, sind Duette oder Trios mit Horacio Lagos und Lita Morales. Als Solist nahm er nur drei Stücke auf: → La melodía de tu corazón (dieses Stück mit einem Chopin-Zitat), → Tu confidencia, und sein letztes Stück, den Vals Mendocina im August 1942.
Nach dem Auseinanderbrechen von Donatos Orchester kehrte Romeo Gavioli nach Montevideo zurück und stellte im Mai 1943 sein eigenes Orchester zusammen, mit dem (laut García Blaya) seine beste Zeit begann. Er war einer der ersten, der den Candombe in das Repertoire eines Tango-Orchesters aufnahm. Bei der uruguyanischen Plattenfirma Sondor gibt es Aufnahmen von ihm und seinem Orchester. Im Teatro Artigas feierte er 1945 mit seinem Ensemble grosse Erfolge.
1957 fiel er in eine starke Depression und schied im April 1957, erst 44-jährig, aus dem Leben, indem er in seinem Auto von der Mole im Hafen von Montevideo raste.
Ja, es ist möglich, dass es eine Dreiecksbeziehung gegeben hat, es wäre nicht das erste Mal. Aber wo sind die Belege? Beachte, dass alles in Schrägschrift Vermutungen und Spekulationen sind. Und das ist offensichtlich der grössere Teil!
Ich schätze die Arbeit von Bottomer, Pruss und Shpigelman. So sind in meinem Verständnis die Recherchen zum Weggang von Rodolfo Biagi von Juan d‘Arienzo nachvollziehbar und glaubhaft und hellen die damaligen Hintergründe auf. War der Wunsch, mit der Donato-Geschichte einen weiteren “Treffer“ zu landen, der Vater hinter dieser doch sehr gewagten Konstruktion? Mir scheint, dass in diesem Fall die Pferde der Fantasie aus den Zügeln gelaufen sind.
Widersprüchliches und Fragen
– Zu Lita Morales habe ich auch nach längerem Suchen kaum etwas gefunden. Fotos gibt es, wenn auch nicht viele. Weder zu ihr noch zu ihrem Mann Horacio Lagos gibt es auf Todotango einen Eintrag. Insofern ist für mich nicht klar, ob, wie in dem fraglichen Artikel vermerkt, Lagos‘ richtiger Name tatsächlich Stigliano ist oder nicht. Auch ist nicht klar, wann Lita ihren Sohn zur Welt brachte. Die Behauptung, dass Daniele Stigliano Romeos Sohn sei, ist nichts anderes als Spekulation ohne jeden Nachweis.
– Lita Morales hatte ihre letzte Aufnahme mit dem Orchester am 6.8.1941 (mit dem Vals Mañana será la mía). Wie kann sie der Grund für das Auseinanderbrechen des Orchesters ein Jahr später sein? Man darf annehmen, dass sie zu der Zeit sich bereits um ihr Kind kümmerte und nicht mehr Teil des Orchesters war.
– Dass die Beteiligten via Liedtexte einander (und zum Vergnügen nachkommender hellseherischer Textdeuter) Nachrichten geschickt haben sollen, ist vielleicht möglich, aber trotzdem wenig wahrscheinlich, denn es gab auch zu jener Zeit offensichtlich andere, verlässlichere Kommunikationsformen. Beachte, dass die Autoren der Geschichte selbst nicht gesungene Textzeilen einbeziehen, um ihre Herleitung in ihrem Prokrustes-Bett ”passend” zu machen. Und ein weiterer, von den Autoren nicht beachteter Punkt: Konnten die Sänger auswählen und bestimmen, was sie singen? Das ist äusserst fraglich, denn es war Sache der Orchesterleiter, die entschieden, welcher Titel als nächstes aufgenommen werden sollte.
– Zur Spekulation in Bezug auf den Liedtext von Tu confidencia (aufgenommen im Mai 1942): Solche Texte der enttäuschten Liebe sind ein Dauerthema im Tango, man findet sie zu Hunderten. Ob man daraus die Botschaft ableiten kann, dass “Romeo nicht aufhört, Lita zu verfolgen, bis sie offen zugab, dass sie ihn nicht mehr liebt“, ist (um es zurückhaltend auszudrücken) ziemlich hergeholt. Weiter heisst es: »...and Romeo threatened to kill himself with the tango of his own composition … Romeo drohte sich umzubringen...« Solch eine Aussage kann ich beim schlechtesten Willen nicht aus dem Text herauslesen.
– Es soll zu einer Schlägerei zwischen Horacio und Romeo gekommen sein, was Edgardo Donato veranlasst haben soll, sein geliebtes Orchester, mit dem er so viel Erfolg gehabt hatte, aufzulösen? – Wilde Spekulation. Zudem ist es äusserst unwahrscheinlich, dass bei so einem spektakulären Ereignis alle geschwiegen hätten und absolut nichts an die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Bei der überraschenden Auflösung bzw. Kündigung von d‘Arienzos Orchester um 1940 berichtete die Presse ziemlich ausführlich. Eine Schlägerei wäre an die Öffentlichkeit gedrungen. Warum ein Streit zwischen Edgardo und Osvaldo nicht in Betracht gezogen wird? Offensichtlich machten sie mit zwei verschiedenen Orchestern weiter.
– Der Grund für Bertones Weggang soll seine jugendliche, heimliche Verliebtheit in Lita Morales gewesen sein? Auch das ist reine Vermutung. Genauso gut könnte man behaupten, dass Bertolín in seine Haushälterin verliebt gewesen sei, aber abgewiesen wurde und er mit gebrochenem Herzen dem Tango den Rücken kehrte. Die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme ist nicht geringer als die behauptete.
– Romeo Gavioli soll “am Boden zerstört“ nach Montevideo zurückgekehrt sein. Tatsache ist, dass er in Montevideo im Mai 1943 sein eigenes Orchester zusammenstellte und mit grossem Erfolg seine Karriere weiter verfolgte. Gemäss Garcia Blaya (von Todotango) begann damit seine beste Zeit. In der spekulativen Fiktion wird behauptet, dass Romeo “immer noch von den Erinnerungen an Lita und Daniel heimgesucht“ worden sei. Woher weiss man das? Das zu einer Zeit, als er in Montevideo nachweislich grosse Erfolge feierte?
– Gavioli verfiel 1957 in eine schwere Depression, also 15 Jahre nach (!) der vermuteten Liebesaffäre mit Lita Morales. Er wählte den Freitod, als er, erst 44-jährig, mit dem Auto von einer Pier im Hafen von Montevideo ins Wasser raste. Depressionen kommen trotz aller Fortschritte der Medizin auch heute noch oft vor. Jedoch wissen die Autoren des Artikels selbstverständlich, was der Auslöser der Depression gewesen sein soll: die Zeilen von Litas Aufnahme von Comadre (mit der Bedeutung von ‘Klatschtante‘, in diesem Zusammenhang aber mit den Bedeutungskomponenten von ‘ältere weibliche Autoritätsperson aus der Nachbarschaft, Kameradin‘, aufgenommen im März 1956).
Don’t bother crying for that old love again. Mach dir nicht die Mühe, wegen der alten Liebe zu weinen.
Try to close up that wound Versuche die Wunde zu schliessen,
Lest the betrayal you feel inside will open up again. Damit der Verrat, den du in dir spürst, nicht wieder aufbricht.
Friend, pay no attention to him, Freundin, kümmere dich nicht um ihn,
A man is not worth the pain! Ein Mann ist den Schmerz nicht wert!
(Übersetzung von M. Krugman)
Wenn diese Worte 14 Jahre nach (!) der vermuteten Affäre Romeo Gavioli in eine Depression gestürzt haben (sollen), dann ist hier noch erwähnenswert, dass es nach der angeblich furchtbaren Wirkung, die die Worte auf Gavioli gehabt haben sollen, es immer noch ein Jahr dauerte, bis Gavioli den Entschluss fasste, aus dem Leben zu scheiden....
Wie ich in den → Vorbemerkungen zu meinen Beiträgen schrieb, ist das, was wir heute noch festhalten können, eine bruchstückhafte Geschichtsschreibung. Aber auf diese Fragmente werden sich spätere Generationen stützen müssen. Und so haben (auch die heutigen) Tango-Chronisten – darüber sollten sie sich im Klaren sein – ihren Teil der Verantwortung. Insofern ist dieser Beitrag ein Stück Tango-Archäologie bzw. der Versuch, solche Fiktionen gerade zu rücken.
Leider ist die gemutmasste Dramatisierung im Begriff, in der Tangowelt zu einer weiteren, kaum hinterfragten Legende zu werden. So im Buch von David Thomas, wo diese Geschichte ohne die kleinste Anmerkung bereits als Tatsache dargestellt wird. Ähnlich auch → hier. Sollte man nicht anmerken dürfen, dass es eigentlich schon peinlich ist, wenn solche Geschichten von ‘Tangokennern‘ unhinterfragt einfach so übernommen werden?
Zusammenfassung
Können wir es einfach dabei bewenden lassen, dass die wahren Ursachen für das Auseinanderfallen von Edgardo Donatos Orchester im Dunkeln bleiben? Ohne dass man es nachträglich zu einer wilden Geschichte hochdramatisiert? Vermutungen hinsichtlich einer Dreiecksaffäre gibt es, aber warum dann das Auseinanderbrechen erst ein Jahr später? Andere Gründe sind für mich wahrscheinlicher. Auch wenn ich es nicht näher belegen kann, wären Querelen mit der Plattenfirma ein möglicher Grund. Und warum der Streit mit seinem Bruder Osvaldo, so dass die Brüder mit konkurrierenden Orchestern weiter machten? Bei R.G. Blaya werden auch ‘Tarifkonflikte‘ erwähnt – mit anderen Worten, Forderungen der Musiker nach mehr Geld, was bei mehreren Orchestern ein Auseinanderbrechen zur Folge hatte. Vielleicht werden eines Tages Berichte, möglicherweise in Form von Tagebucheinträgen, auftauchen, die mehr Licht darauf werfen, warum Edgardo Donato diesen radikalen Schritt gegangen ist oder gehen musste.
Im Gegensatz zu → Juan d‘Arienzo, der 1940 wegen Geldforderungen und der darauffolgenden Kündigung seiner Musiker vor einem Scherbenhaufen stand, hat Edgardo -– aus welchen Gründen auch immer – es nicht geschafft, mit seinem erfolgreichen Orchester weiterzumachen.
Bailemos Tango !
Tango-DJ Michael KI © 07/2023 (letzte Änderung 03/2024)
Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen
zusätzlich: – https://es.wikipedia.org/wiki/Edgardo_Donato
– www.todotango.com/english/artists/biography/290/Edgardo-Donato/ (Oscar Zucchi)
– www.totango.net/Donato.html
– www.tangodecoder.com/2016/04/musical-chairs-with-the-donato-brothers-.html
– https://tangotimetravel.be/edgardo-donato-all-recordings-1940-1945/
– https://elespejero.wordpress.com/2015/08/06/tango-stories-carnaval-de-mi-barrio/
– zu Gavioli: www.todotango.com/english/artists/biography/970/Romeo-Gavioli/ (Ricardo García Blaya)
– zu Osvaldo Bertone: https://riverplatejazzfiles.blogspot.com/2009/05/el-sexteto-de-washington-bertolin.html
Discographie: https://milongandoblog.wordpress.com/2018/05/10/edgardo-donato-discografia/#more-6934