Am Rio de la Plata entwickelte sich eine eigenständige, wunderbare Musikgattung, die ihresgleichen sucht. Kleine Kunstwerke, grossartige Musik, bezaubernde Melodien – in drei Minuten gepackt und in dieser kurzen Zeit äusserst ideenreich entwickelt. Allein diese Musikalität und dieser Ideenreichtum würden den Tango rioplatense zu etwas Besonderem machen.
Aber es kommt noch etwas dazu: die Dichtung – und vortreffliche Sänger, für die diese lyrischen Kunstwerke geschrieben wurden.
Eine kurze Anmerkung zum Gesang im Tango argentino: In den meisten Musikkulturen wird die tragende Rolle der weiblichen Stimme zugestanden. Hier sind es die Männer, die sich durchgesetzt haben, und zwar mit einer grossen stimmlichen Vielfalt auf höchstem gesanglichen Niveau. **)
Ich bin über das Tanzen zum Musik-Auflegen gekommen. Und es ist gut, dass ich nur wenig Spanisch verstehe, denn dadurch war mir die Wohltat vergönnt weghören zu können (was bei den deutschen Schlagern leider nicht möglich ist). Dadurch rückten unwillkürlich die musikalischen Qualitäten wie Melodie, Klang, Rhythmus und Variationen ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Mit der Zeit bin ich natürlich immer neugieriger geworden, worüber sie singen.
Es war für mich interessant zu erfahren, dass auch spanischsprechende Tangueras und Tangueros oft nicht wissen, worum es geht… Die meisten von euch kennen diesen wunderschönen Tango von Miguel Calo (Alberto Podestá ab 1.10) Was ist Percal? Ich habe einige Tänzerinnen spanischer Muttersprache gefragt, worüber denn da gesungen wird. Niemand wusste es. Eine Chilenin hatte eine Ahnung und konnte ihren Vater fragen, der den Hintergrund kannte: Percal ist ein einfacher Baumwollstoff. Percal steht in den Tangotexten als Symbol für Armut, Bescheidenheit und Unschuld.
Das Spektrum der Tango-Lyrik ist weit gespannt. Themen sind gescheiterte Liebesbeziehungen, der Verlust der Jugend, des heimischen Stadtviertels, der moralischen Integrität, und andere Themen.
Marta Rubinstein benennt in ihrem Buch Tango Macho folgende Themenkreise: **)
– der Tod, der jeden treffen konnte in einer Zeit, als schlechte hygienische Verhältnisse, ein marodes Abwassersystem und Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera, Pocken den Tod zu etwas Alltäglichem machten.
– die Sehnsucht nach dem Barrio. In der Rückschau bekommt sogar die Vorstadtarmut eine Aura von Geborgenheit und mitmenschlicher Wärme, und das selbst noch in Müllhaldennähe wie im Tango El ciruja – der Knochensammler.
– das Bandoneon, das klangprägende Instrument des Tangos, auch Fueye (Blasebalg) genannt (›Alma de Bandoneon, Che bandoneon, Bandoneon arrabalero‹ und andere **)
– die Francesitas und Milonguitas – Frauen auf dem ‘schlechten‘ Weg, oder, wie Reichardt es umschreibt: ›die von Alkohol, Drogen und ‘Cabaretdienst‘ gezeichnete Frau‹ – wobei die Hintergründe der Prostitution und der gesellschaftlich-männlichen Doppelmoral kaum hinterfragt wurden. (›Esclavas blancas, Margot, Milonguita, Madame Ivonne, Muñeca brava‹ und einige andere)
– die Freundschaft, die Muchachos
Der zweifellos grösste Teil der Tangodichtung hat die Liebe zum Thema, vor allem das Scheitern, die enttäuschte Liebe, oder wie die Brasilianer es etwas spöttisch benennen, das ›Lamento cornudo‹.
›Mi noche triste‹ von Carlos Gardel war so etwas wie der Prototyp dieses Themas, das in anderen Tangos wiederholte wurde. (›Amurado, No me escribas‹ und viele andere)
In dem vielleicht am meisten gespielten Tango ›La Cumparsita‹ klagt der Sänger: »Wenn du wüsstest, dass tief in meiner Seele noch jene Liebe schlummert, die ich für dich empfand …
Seit dem Tag, an dem du fortgingst, habe ich Schmerzen in der Brust …« **)
Ein weiterer von vielen ist der Tango No te engañes corazón mit der pauschalen Anklage, dass Frauen lügen und betrügen, wobei der Mann sich nicht im Mindesten hinterfragt.
Dieser grosse Themenkreis ist auch deshalb von Interesse, weil man darin das sich über die Jahrzehnte verändernde Frauenbild ablesen kann – mit all seinen Variationen der schmerzlichen Liebe zwischen Mann und Frau. Über diesen Themenkreis des sich verändernden Frauenbildes wurden einige Bücher geschrieben.
Und so taucht mit der Zeit in den Tangotexten auch der bedauernde oder bereuende Mann auf, der das Scheitern nicht allein der Frau anlastet, sondern die eigene (Mit-)Schuld eingesteht (z.B. in Volver und Esta tarde gris).
Das Bild des an- und wehklagenden Mannes ist anscheinend ziemlich verfestigt. Ich sprach mit einer spanischsprachigen Tanguera, und sie war verwundert, dass es auch die Rolle des bereuenden Mannes im argentinischen Tango geben soll.
Im Tango A las 7 en el café von Miguel Caló treffen sich die Freunde. »Bruder, mein wahrer Freund, der alles von mir weiss, ich erzähle dir von einer Begegnung, die mich wieder glücklich macht.« Er erzählt, wie er am Tag davor Margarita, seine erste Liebe traf, und die er wegen seinem Milonguero-Leben verlor (y que yo por milonguero un mal día la perdi). In der nächsten Strophe singt Jorge Ortiz (seine Stimme wird dabei weich und scheu und setzt eindrücklich das Gesungene in Gefühle um):
Te juro que nunca
me sentí tan apocado,
estaba atontado
sin saber lo que decir.
Pero pronto comprendiendo
que vivía equivocado
prometí volver al lado,
de su amor hasta morir.
Der Schmerz des Verlustes
Im Vals mit dem kurzen Titel → Paisaje - Landschaft (Pedro Laurenz mit A. Podesta 1943) wird der Verlust und der damit einhergehende Schmerz nicht direkt, sondern hintergründig und subtil angesprochen. Vordergründig geht es um eine Herbstmalerei, aber nach ein paar Zeilen merken wir, dass es um Herzschmerz geht. Der Mann erzählt, dass ein Porträt seiner Geliebten an der Wand hing. Als sie sich trennten, hat er es runter genommen. Irgendwann später kaufte er sich ein Landschaftsbild (Paisaje) und hängt es an die gegenüberliegende Wand. Die Perspektive wechselt, auf einmal merkt man, dass er zu diesem Bild spricht, und man spürt, dass das Gefühl des Herbstes im Bild etwas mit seiner Verflossenen zu tun hat.
Ausschnitte aus dem Text, als er zum Bild spricht:
»Beklemmung spürte ich
bei deinem verschleierten Ton,
deinem Dunkel und Grau.
Dein Himmel, verhüllt von Wolken und Dunst.
Wer mag es gewesen sein, der
des Kiefernwaldes Herbstruhe auf die Leinwand malte?
Dies dunkle Licht des Vergessens, das verlorene Ende,
und der Weg, verwundet von Blau und Einsamkeit...« **)
Selbst in der deutschen Übersetzung spürt man noch die Kraft von Homero Manzis poetischen Bildern, die in jeder Übersetzung etwas verloren gehen.
Zurückkehren, mit welker Stirn, der Schnee der Zeit hat meine Schläfen versilbert. Fühlen, dass das Leben ein Hauch ist, dass zwanzig Jahre nichts sind, dass der fiebrige Blick, der im Dunkel umherirrt, dich sucht und dich ruft. –
Volver (T: A. Le Pera)
Remordimiento de saber que, por mi culpa, nunca, vida, nunca te veré.
–Die Qual zu wissen, dass es meine eigene Schuld ist, wenn ich Dich, mein Leben, nie mehr sehen werde.
En esta tarde gris - An diesem grauen Abend
Ich schwöre
ich fühlte mich nie so scheu.
Ich war verwirrt
und wusste nicht was sagen.
Aber ich verstand mit einem Mal
Mein Leben war ein grosser Fehler
und ich versprach
sie zu lieben bis zu meinem Tod.
Es wäre jedoch eine grobe Verallgemeinerung, den Tango auf weinende Männeraugen zu reduzieren.
In den Tangotexten ist nicht ›die Traurigkeit an sich‹ das Thema, sondern es geht um konkrete Verluste – damit wird auch die Vergeblichkeit der Tröstung aufgezeigt. Man trauert um etwas – um die vergangene Idylle des Stadtviertels, um die durchgebrannte Geliebte, um... Es sind die Trauernden, mit denen die Hörer sich gefühlsmässig solidarisieren können.
Einen Themenkreis, den Marta Rubinstein nicht erwähnt, ist der Tango selbst. Dieser ist in manchen Tangos das besungene Thema, besonders oft in den Tangos von Ricardo Tanturi. Mit seiner Titeln, in denen er den Tango selbst zum Thema machte, sprach Tanturi die Milongueros direkt an. Dazu gehören Al compás de un tango; El tango es el tango; Tango (Voz de Tango); Cuatro compases; Canción de rango; Bailongo de los Domingos; Muchachos comienza la ronda, En el salon.
Schauen wir uns den bekannten Tango → Una emoción (1943, mit Enrique Campos) näher an. Die Lyrik hat auch hier den Tango selbst zum Thema.
Vengan a ver que traigo yo
en esta unión de notas y palabras.
Es la canción que me inspiró
la evocación que anoche me acunaba.
Es voz de tango
modulado en cada esquina
Quiero cantar por este son
que es cada vez más dulce y seductor.
Su acento es la canción de voz sentimental...
su ritmo es el compás que vive en mi ciudad.
No tiene pretensión,
no quiere ser procaz.
se llama tango... y nada más.
Komm und schau, was ich bringe
in dieser Verbindung von Melodie und Wort.
Es ist der Gesang, der in mir die Erinnerung hervorruft,
die mich letzte Nacht in den Schlaf wiegte.
Es ist die Stimme des Tangos,
der an jeder Strassenecke zu hören ist
von dem, der ein Gefühl lebt, das ihn beherscht.
Ich möchte singen von diesem Klang,
der mit jedem Mal süsser und verführerischer wird.
Es ist ein Gesang mit sentimentaler Stimme,
sein Rhythmus ist der compás (Takt) meiner Stadt.
Er hat keinen Anspruch,
noch will er frech sein.
Er nennt sich Tango … und nicht mehr.
Die Armut des Stadtviertels, des Arrabal, war oft der Ausgangspunkt einer Erzählung. Im Tango Sentencia (Urteil, Urteilsspruch) heisst es:
Ich wurde in der Vorstadt geboren, Herr Richter,
in der Vorstadt, wo einen das Elend verzweifeln lässt,
im sozialen Morast, wo eines Nachts
die Armut eine Bleibe gefunden hatte…
Wenn jemand in den Tangotexten weint, sei es aufgrund von Liebeskummer, Heimweh, Scheitern oder ähnlichem, ist es fast immer ein Mann, selten eine Frau. Jedoch wird auch in Argentinien wie in ganz Südamerika das bekannte Männlichkeitsbild hochgehalten: ein Mann weint nicht! **) Warum also gerade im Tango diese Auflehnung gegen das Männlichkeitsklischee?
Direkte politische Kritik an der Obrigkeit (bis auf ganz seltene Ausnahmen) hatten sich die Texteschreiber selbst verboten, denn sonst wäre es ihnen beim allzeit herrschenden Repressionsapparat schlecht ergangen. Die frühe Festlegung auf die Trauer um Verlorenes kann man verstehen als ein indirektes Aufbegehren gegen obrigkeitsverordnete Wertevorstellungen. Und so gab es eine frühe Festlegung auf die Erfahrungen von Trauer um Verlorenes. Auch wenn im Tango selten direkter Protest zu hören ist, so ist in ihm, wie Reichardt es formuliert, »das Zähneknirschen des Erniedrigten und Ausgebeuteten unüberhörbar.« An anderer Stelle schreibt er: »Negiert wird all das, was eine mängelbehaftete Gesellschaftsordnung an Tröstlichkeiten vorgaukeln muss, um die Schlechtweggekommenen bei staatsfrommer Laune zu halten.«
Der Tango ist (bis auf wenige Ausnahmen) nicht fröhlich, er gaukelt kein Weltbild vor, in dem alles ein gutes Ende findet. Und so bleiben uns systemstabilisierende Verblödungstexte deutscher Schlager, jenseits jeglicher Erschütterung, erspart. (»Wir wollen ganz zufrieden sein / und trinken Bier, Schnaps und Wein« (Tony Marschall), um nur ein Beispiel einer Flut dümmlicher Schlagetexte zu nennen.
Die Erzählungen des Tango sind keine Aschenputtel- oder Tellerwäscher-Aufstiegsmärchen. Fracaso – Scheitern ist ein häufiges Wort in den Tangogedichten. Das Scheitern, das in allen Bereichen des Lebens vorkommt, und das uns daran erinnert, dass wir nicht immer bekommen, was wir wollen. Aufstiegsmärchen gibt es im Tango nicht, sie zeigen meistens den entgegengesetzten Verlauf, nämlich abwärts – abajo. José Gobello bemerkt: »Der Tango singt nicht darüber, was man hat, sondern was man verloren hat.« **) Selbst die Vorstadtarmut gewinnt – im Kontrast zu den Tiefpunkten menschlicher Existenz – im Nachhinein eine Aura von Geborgenheit und menschlicher Wärme. Einer der bekanntesten Tangos mit diesem Thema im Titel ist → Dos fracasos – Zweimal Scheitern; aber das Scheitern findet in vielen Tangotexten ihren Ausdruck.
Mir gefällt besonders die Lyrik, wo mit wenigen Strichen eine Stimmung hingezaubert wird, z.B. in → Niebla del Riachuelo – Nebel auf dem Riachuelo. Der Riachuelo ist der Fluss, der beim Stadtteil Boca (Boca: Mund, hier im Sinn von Mündung) in den Plata mündet und wo früher der alte Hafen von Buenos Aires lag. Die poetische Qualität bleibt m.M. auch in der Übersetzung erhalten. Ein kleines Kunstwerk.
Weil der Text auch in der Übersetzung so düster-schön ist, gebe ich ihn in der ganzen Länge wieder. In der letzten Strophe schaffen die Worte schwermütige Hoffnungslosigkeit.
».. schluck deine Sehnsucht runter in einem stillen Café... es regnet langsam auf deine Verzweiflung …
Anker, die nie mehr, nie mehr gelichtet werden... gefangen wie ein Buddelschiff in einer Spelunke.«
Turbio fondeadero donde van a recalar,
barcos que en el muelle para siempre han de quedar...
Sombras que se alargan en la noche del dolor;
náufragos del mundo que han perdido el corazón...
Puentes y cordajes donde el viento viene a aullar,
barcos carboneros que jamás han de zarpar...
Torvo cementerio de las naves que al morir,
sueñan sin embargo que hacia
el mar han de partir...
Niebla del Riachuelo!..
Amarrado al recuerdo yo sigo esperando...
¡Niebla del Riachuelo!
De ese amor, para siempre, me vas alejando...
Nunca más volvió, nunca más la vi,
nunca más su voz nombró mi nombre junto a mi...
esa misma voz que dijo: »¡Adiós!«
Sueña, marinero, con tu viejo bergantín,
bebe tus nostalgias en el sordo cafetín...
Llueve sobre el puerto, mientras tanto mi cancion;
llueve lentamente sobre tu desolación...
Anclas que ya nunca, nunca más, han de levar,
bordas de lanchones sin amarras que soltar...
Triste caravana sin destino ni ilusión,
como un barco preso en la »botella del figón.
Niebla del Riachuelo, 1937 Musik von J. C. Cobían, Lyrik von Enrique Cadícamo
Aufgrund der begrenzten Zeit einer Plattenaufnahme wird im Tango nur ein Teil der Dichtung gesungen – hier die zweite, nicht kursiv gedruckte Strophe. Ich würde gerne wissen, ob bei Live-Auftritten, von denen es in der Epoca de Oro viele gab und wo die Zeitbeschränkung einer Plattenaufnahme nicht galt, der Gesangspart auf weitere Strophen ausgedehnt wurde – was vonseiten Orchester und Sänger kein Problem gewesen wäre. Diese Frage wurde noch nicht aufgeworfen und auch nie beantwortet.
Yo nací, señor juez, en el suburbio,
suburbio triste de la enorme pena,
en el fango social donde una noche
asentara su rancho la miseria.
Trüber Ankerplatz, wo die Schiffe hingeraten,
die für immer an der Mole bleiben müssen...
Schatten, die in der Nacht des Schmerzes grösser werden;
Wracks der Welt, die ihr Herz verloren haben....
Brücken und Takelagen, in denen der Wind heult,
Kohledampfer, die niemals mehr auslaufen...
Finsterer Friedhof der Schiffe, die sterbend
immer noch davon träumen,
dass sie auslaufen werden...
Nebel auf dem Riachuelo!...
Vertäut an der Erinnerung hoffe ich weiter...
Nebel des Riachuelo!
von dieser Liebe hast du mich für immer getrennt...
Sie kam nie mehr zurück, hab sie nie mehr gesehen,
nie mehr sprach ihre Stimme meinen Namen neben mir...
dieselbe Stimme, die sagte: „Adios!“
Träume, Seemann, von deiner alten Brigg,
schluck deine Sehnsucht runter in einem stillen Café...
Regen über dem Hafen während meines ganzen Liedes;
es regnet langsam auf deine Verzweiflung...
Anker, die nie mehr, nie mehr gelichtet werden,
Bordwände an Steinquadern, unlösbare Taue...
Trauriger Geleitzug, ohne Ziel, ohne Erwartung,
gefangen wie ein Buddelschiff in einer Spelunke.
Die Tangotexte sparen auch das Gefühl der tiefsten Hoffnungslosigkeit nicht aus. In manchen Zeilen taucht es auf, besonders düster die Texte bei E.S. Discépolo:
Yira yira (Version F. Canaro 1947 mit A. Arenas)
Du merkst, dass alles Lüge ist,
du merkst, dass nichts Liebe ist,
dass es der Welt ganz egal ist....
Immer im Kreis ! Immer im Kreis rum...!
Auch wenn dich das Leben zerbricht,
auch wenn ein Schmerz dich zerfrisst,
erwarte niemals eine Hilfe,
noch eine Hand, noch einen Gefallen.
Von der Enttäuschung und dem Schmerz ist es nicht mehr weit zum Alkohol – die Droge, die helfen soll, die Enttäuschungen und all das Schmerzliche zu vergessen. Er taucht bereits in Mi noche triste auf, in vielen Tangos, die folgen, spielt er eine Rolle, z.B. in ›La copa del olvido – Becher des Vergessens; La ultima curda – Der letzte Suff; Los mareados – die Trunkenen; Esta noche me emborracho – Diese Nacht besaufe ich mich; No me pregunten por qué – Fragt mich nicht warum‹.
Hier ein Textausschnitt von Tabernero – der Wirt (Lyrik von R. C. Olivieri)
Tabernero, que idiotizas
con tus brebajes de fuego,
¡sigue llenando mi copa
con tu maldito veneno!(..)
Muchos se embriagan con vino
y otros se embriagan con besos...
Como ya no tengo amores,
y los que tuve murieron,
placer encuentro en el vino
que me brinda el tabernero
Von diesem Tango gibt es einige gute Versionen, die bekanntesten sind die von Enrique Rodriguez und Troilo (beide 1941 aufgenommen). Die m.M. gelungenste Version ist die von José Basso mit Francisco Fiorentino. In dieser Interpretation setzte Fiorentino das Bild des Betrunkenen unübertrefflich um.
Eine andere Droge, Kokain, wird im bekannten Tango A media Luz – Im schummrigen Licht erwähnt, aber diese letzten Zeilen werden in vielen Versionen nach 1930 nicht gesungen (hier verlinkt mit einer Aufnahme von Roberto Firpo von 1934 mit Carlos Varela und kurzem Text). In einer frühen Version von 1927 des Orchesters Bianco-Bachicha (c. César Alberú) wird der letzte Teil mit dem Kokain noch gesungen. **) Erst ab 1950 gab es wieder Versionen, in denen das Kokain erwähnt wird.
Für die Tangos mit Gesang lieferten namhafte Dichter, wie Homero Manzi, José María Contursi, Enrique Cadícamo, E.S. Discépolo und andere den Text. Aus diesen Gedichten wählten die Sänger und Komponisten die passenden Strophen. Meistens werden die gleichen Strophen gesungen, aber es kommt auch vor, dass bei den verschiedenen Interpretationen des gleichen Tangos teilweise andere Zeilen gewählt wurden… Vergleiche den wunderbaren Tango, den jeder kennt Corazón, no le hagas caso! – Herz, du hast keinen Grund in den Interpretationen von Troilo und Caló.
Aber es gibt sie auch – die Tangos, die Wohltuend-Alltägliches besingen, wie zum Beispiel Que lento corre el tren. Auf dem Weg zur Geliebten klagt er in seiner Sehnsucht Ach, wie langsam fährt der Zug…
Oder Fumando espero – eine schönere Lobpreisung des Rauchens kann es kaum geben. (Der Tango entstand bereits 1922, hier in der Version von de Angelis 1956).
Fumar es un placer, genial, sensual...
Fumando espero al hombre que yo quiero,
tras los cristales de alegres ventanales…
(..)
Tendida en mi sofá, fumar y amar,
ver a mi amado feliz y enamorado,
sentir sus labios besar con besos sabios.
Verás que todo es mentira
Verás que nada es amor
Que al mundo nada le importa.
Yira, yira
Aunque te quiebre la vida
Aunque te muerda un dolor
No esperes nunca una ayuda
Ni una mano, ni un favor.
Wirt, wie Du alle verdummst
mit Deinem Feuer-Gesöff.
Giess weiter mein Glas ein
mit Deinem verdammten Gift!
(..)
Viele betrinken sich mit Wein
und andere betrinken sich mit Küssen…
Da ich keine Geliebte mehr habe,
und die, die ich hatte, gestorben sind,
finde ich Vergnügen im Wein,
den mir der Wirt anbietet.
Zu rauchen ist ein Genuss, genial, sinnlich…
Rauchend warte ich auf den Mann, den ich liebe
hinter den weiten Fensterscheiben…
(..)
Auf meinem Sofa liegen, rauchen und lieben,
meinen mich liebenden Geliebten glücklich sehen,
seine Lippen fühlen, wie sie wissend küssen
Die Art zu singen entwickelte sich im Tango über die Jahrzehnte – von improvisierten Texten in den Anfängen über den Estribillista (Refrainsänger) in den 20er und 30er Jahren. Francisco Canaro war einer der ersten, der (1924) einen Tango mit Gesang auf die Platte brachte. Auf den Platten hiess es lange ›con estribillo‹ (ohne Nennung des Sängers), später ›Estribillo cantando por ..‹. Die gesungenen Texte waren oft kurze Zeilen in der zweiten Hälfte der Aufnahme. Viele kennen d'Arienzos Pensalo bien von 1938 aus dem Film ›Tango Lesson‹. Alberto Echagües Gesang dauert hier gerade mal 25 Sekunden, aber es reicht, um eine Geschichte zu entwerfen: Pensalo bien antes de dar ese paso... que tal vez mañana acaso no puedas retroceder. – Überleg es dir gut, bevor du diesen Schritt tust, weil morgen du ihn nicht mehr zurücknehmen kannst. Es ist übrigens die letzte Aufnahme mit Rodolfo Biagi am Klavier im Orchester von Juan d'Arienzo.
Für die Liebhaber des Tango wurde der gesungene Tango immer wichtiger. Das findet Ausdruck darin, dass die Sänger eine immer bedeutendere Rolle im Tango bekamen. Charlo (eigentlich Juan Pérez de la Riestra) war einer der ersten kontinuierlichen Estribillistas im Orchester von Canaro, und er sang vor allem Tangos. Im Gegensatz zu früheren Sängern trat er bestens gepflegt im Anzug auf. »Charlo ist eine Art von Gegenfigur des Vororts, der ungepflasterten Gassen, der Laternen, die in der Nacht vor Einsamkeit sterben…« **) Im Laufe der Zeit wurden die Sängerinnen und Sänger die grossen Publikumslieblinge, mehr als die Virtuosen der Orchester. Roberto Rufino, der als 17-jähriger Jüngling zu Carlos di Sarli kam und ihm seinen Erfolg verdankte, wechselte, da er als Sänger begehrt war und es sich erlauben konnte, mehrmals und unvermittelt die Orchester, sehr zur Enttäuschung der jeweiligen Orchesterleiter.
Der Gesang bekam eine immer wichtigere Funktion. Es war nicht mehr kurzer Estribillo, sondern der Gesang bekam eine eigenständige Rolle im melodiösen Tango, wie ihn Troilo mit seinem Sänger Francisco Fiorentino in den 40er Jahren zur Perfektion führte. Das Orchester begleitet ihn nicht mehr wie früher, der Sänger führt die Melodielinie fort, die Instrumente verzieren die Gesangslinie und umspielen sie wie eine Ranke. Auch hier fallen mir, wenn ich der Musik mit Aufmerksamkeit zuhöre, nur Worte wie eindrucksvoll und hervorragend ein.
Wie die Komponisten den Text in die Melodie einpassten, und wie die Sänger die Texte umsetzen, ist bei manchen Stücken schlichtweg bestechend genial. Das verdiente ein eigenes Kapitel. Mit einigen Musikbeispielen liesse sich das in einem Vortrag gut illustrieren. Aber beschreiben? – bei Musik greifen Worte einfach zu kurz.
Michael KI Dezember 2024; letzte Ergänzung 01/2025
Quellen und Anmerkungen
Die grosse Bandbreite der Tangotexte auf ein paar wenigen Seiten behandeln zu wollen, ist an sich vermessen; jedoch ist es möglich, über die wichtigsten Themenkreise etwas anzumerken. Die Idee zu diesem Beitrag kam mir nach der Lektüre des Buches von Marta Rubinstein ›Tango Macho‹, in dem sie ein paar der Themenkreise bespricht. (Edition eden, Zürich 2001. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.) Dieser Text ist eine erweiterte Version eines Beitrages, die ich vor Jahren für Tangoinfo.ch verfasst hatte und beruht auf den Ausführungen von M. Rubinstein, D. Reichardt und A. Birkenstock (siehe → Vorbemerkungen)
Zur Verbreitung der Tangotexte trug die von Dante Linyera gegründete Zeitschrift ›La cancion moderna‹, die später zur ›Radiolandia‹ wurde, stark bei. Linyera war Journalist und Dichter und schrieb zahlreiche Tangotexte. Er starb jung mit 35 Jahren.
Sängerinnen: ›Ja, aber..‹ werden einige von euch sagen. Was ist mit den Sängerinnen wie Rosita Quiroga, Azucena Maizani, Mercedes Simone, Tita Merello, Ada Falcon, Libertad Lamarque (die in einigen Filmen der 30er-Jahre mitspielte) und Nelly Omar – um nur die bekanntesten zu nennen? Mit weiteren Recherchen gibt es neue Erkenntnisse, und mir wurde klar, dass die Rolle der weiblichen Sängerinnnen in der Frühzeit bedeutend war. Dennoch möchte ich es bei meiner Aussage lassen, denn in der EdO spielte die männliche Stimme klar die Hauptrolle im Tango. Während der EdO waren Sängerinnen, wenn ich meine Tango-Bibliothek durchschaue, die Ausnahme. Bei den Aufnahmen von Edgardo Donato hören wir immer wieder mal eine weibliche Stimme. Er setzte, im Gegensatz zu den anderen Orchestern jener Zeit, ab 1939 die Sängerin Lita Morales ein. Aber die weibliche Stimme war in den bekannten Orchestern der EdO die grosse Ausnahme.
La Cumparsita (Lyrik von Pascual Contursi, Übersetzung von A. Birkenstock)
Si supieras, que aún dentro de mi alma,
conservo aquel cariño
que tuve para ti
Quién sabe si supieras
que nunca te he olvidado,
volvieno a tu pasado
te acordarás de mi …
Desde el día que te fuiste
siento angustias en mich pecho.
Bandonéon arrabalero (Musik von J.B. ‘Bachicha‘ Deambroggio, Text von Pascual Contursi)
Bandonéon arrabalero
viejo fueye desinflao,
te encontré como a un pebete
que la madre abandonó
sin revoque en las paredes, a la luz de un farolito
que de noche te alumbró.
Paisaje (Musik von Sebastian Piana, Lyrik von Homero Manzi; c: Alberto Podestá)
Te compré una tarde
paisaje lejano,
el marco dorado
y el tema otoñal.
Te colgué en el muro
frente a su retrato,
frente a su retrato que ya no está más.
Es tal vez por eso
que recién me angustian
tu tono velado,
tu sombra, tu gris,
tu cielo techado de nubes y bruma...
tu parque llorando con lluvia de abril.
›Lluvia de abril‹: Bevor es zu Nachfragen kommt, warum im April vom Herbst gesprochen wird: Argentinien liegt auf der Südhalbkugel, der Herbst ist dann, wenn wir im Norden den Frühling haben.
Natürlich gibt es sie auch, die Macho-Tangotexte, die das Männlichkeitsbild hochhalten. Als Beispiel sei Mandria (d‘Arienzo 1939 mit Alberto Echagüe) genannt (Link mit Text).
Sentencia (Musik von Pedro Maffia um 1923, Lyrik von Celedonio E. Flores)
Yo nací, señor juez, en el suburbio,
suburbio triste de la enorme pena,
en el fango social donde una noche
asentara su rancho la miseria.
José Gobello: »El tango no se ha hecho para cantar lo que se tiene, sino lo que se ha perdido.«
Bild Transportbrücke oder Schwebefährenbrücke Transbordador “Nicolás Avellaneda”, eine englische Konstruktion, die 1914 eröffnet wurde. Sie war bis in die 1960er Jahre in Betrieb, rostete dann vor sich hin und sollte, wie zwei Brücken gleicher Bauweise über den Riachuelo, verschrottet werden. Die letzte Brücke dieser Art konnte gerettet und restauriert werden. 2017 wurde sie als historisches Technikdenkmal wieder in Betrieb genommen.
Yira, yira (Text & Musik von E.S. Discépolo)
Verás que todo es mentira
Verás que nada es amor
Que al mundo nada le importa
Yira, yira
Aunque te quiebre la vida
Aunque te muerda un dolor
No esperes nunca una ayuda
Ni una mano, ni un favor.
A media luz (Musik von Edgardo Donato, Lyrik von Carlos C. Lenzi)
Juncal 12-24
Telefoneá sin temor.
De tarde, té con masitas
De noche, tango y cantar.
Los domingos, tés danzantes,
Los lunes, desolación...
Hay de todo en la casita
Almohadones y divanes...
Como en botica, cocó,
Alfombras que no hacen ruido
Y mesa puesta al amor.
Übersetzungen in andere Sprachen sind eine Kunst für sich – meine Hochachtung jedem guten Übersetzer. Ich finde, folgender Sinnspruch von George Bernard Shaw bringt das Problem (natürlich nur hinsichtlich der Übersetzungen) elegant auf den Punkt:
»Frauen sind wie Übersetzungen: Die schönen sind nicht treu, und die treuen sind nicht schön.«
So wird im oben erwähnten A media luz der Ausdruck meistens mit Im Dämmerlicht übersetzt. Aber im Gedicht wird das schummrige Licht eines Bordells beschrieben. Jedoch stösst Im Schummerlicht (Übersetzung von Haerter) in meinem Sprachgefühl an (ebenso wie Halbdunkel), und so sind nach meinem Empfinden die Zeilen (auch wegen des Sprachrhythmus') A media luz los besos, a media luz los dos am besten übersetzt mit Küsse im schummrigen Licht, im schummrigen Licht wir zwei.
Kokain wird in den letzten Strophen erwähnt: Como en botica, cocó.
Der Arzneimittelhersteller Heinrich E. Merck erfand 1862 ein Verfahren, das die Herstellung von Morphium im grossen Massstab ermöglichte. Aus einem kleinen Labor wurde in wenigen Jahren der erste grosse Pharmakonzern Deutschlands. Ein Mittel, das die Morphiumsüchtigen von ihrer Sucht befreien sollte (!), war Kokain, das u.a. von Sigmund Freud in den höchsten Tönen gelobt wurde. 1923 konnte es synthetisiert werden. Von den Pharmafirmen wurden immer neue Anwendungsgebiete ’gefunden’ und angepriesen – Anzeigen in allen Zeitungen bewarben Kokain, z.B. als Tropfen gegen Zahnschmerzen. K. wurde auch gegen Asthma, Heuschnupfen und als Haarmittel eingesetzt. Es war in jenen Jahren als Genussmittel in der Gesellschaft verbreitet – man ging in den ›Drugstore‹ und konnte dort Kokain erwerben, das flüssig, als Salbe, in Form von Pastillen, als Zigaretten oder zum Inhalieren gegen alle möglichen Beschwerden eingesetzt wurde. In der Anfangszeit enthielt das Coca Cola-Getränk, wie der Name sagt, Kokain und sollte bei Kopfweh und Erschöpfung getrunken werden. 1898 stellte Beyer ein neues Opium-Derivat her, angeblich ohne Gewöhnungseffekt, mit dem heldenhaften Namen Heroin, das bei Asthma empfohlen und sogar als Hustensirup für Kinder verabreicht wurde. Die Begriffe wie Drugstore und Drogerie gehen auf diese Drogen zurück. (Quelle: Arte-Dokumentation ›Der grosse Rausch‹ vom 5.8.23)
Zurück zu A media luz: In der Version von Bianco-Bachicha 1927 wird das Kokain noch erwähnt, in späteren Versionen nicht mehr, so auch in der von Donato selbst eingespielten Version von 1941 mit Horacio Lagos. Auch in der Version 1949 von José Basso mit Fiorentino kommt das Kokain nicht vor. 1950 nahm Donato mit Carlos Almada als Sänger das Stück nochmal auf, diesmal wird das Kokain erwähnt. Später folgten weitere Aufnahmen mit Erwähnung der Droge, wie z.B. die Version von Donato Racciatti mit Nina Miranda 1953. (Dank an TF für die Hinweise)
Über Charlo: »Charlo es como la contrafigura del arrabal, de las callecitas de tierra, de los faroles muriéndose de soledad en la noche …« (José Barcia ›Charlo: El Tango de Salon‹)
Quién será, quien será que
en tu tela pintó
la quietud otoñal del pinar?
Y esa luz de olvido,
y el confín perdido,
y el camino
herido de azul y la soledad?
Du merkst, dass alles Lüge ist,
du merkst, dass nichts Liebe ist,
dass es der Welt ganz egal ist....
Immer im Kreis ! Immer im Kreis rum !
Auch wenn dich das Leben zerbricht,
auch wenn ein Schmerz dich zerfrisst,
erwarte niemals eine Hilfe,
noch eine Hand, noch einen Gefallen.
Juncal 12-24 (Telefonnummer)
Telefonieren Sie ohne etwas zu befürchten;
am Nachmittag Tee mit Gebäck;
am Abend Tango und Gesang;
sonntags Tanztee-Runden,
montags Trostlosigkeit.
Es gibt alles Mögliche in dem Häuschen:
Sofakissen und Liegesofas;
Kokain wie in einer Drogerie;
Teppiche, die kein Geräusch machen
und alles vorbereitet für die Liebe.