Der junge Alfredo de Angelis hatte das Glück, in einer Familie von Musik- und Tangoliebhabern aufzuwachsen. Die Tango-Grössen jener Zeit besuchten das Haus der Eltern, so auch Pascual Contursi, Carlos Gardel und dessen Freund José Razzano, Komponist verschiedener Tango-Hits wie z.B. die oft gespielte Milonga Tortazos.
Vor diesem Hintergrund mag es verständlich sein, dass Alfredo das Bandoneon, dieses für den Tango so typische, aber so schwierig zu erlernende Instrument, wählte. Gleichzeitig lernte der junge de Angelis auch Klavierspielen. Er muss ein grosses Talent gewesen sein, denn mit 13 hatte er bereits ein Klavierdiplom in der Tasche.
Seine ersten selbstständigen Gehversuche waren ähnlich wie bei anderen Tango-Musikern: um den Verkauf zu fördern, spielte er Klavier in einem Musikgeschäft, besorgte in Tanzstunden die Musik und begleitete Stummfilme auf dem Klavier. In den frühen 30ern spielte er in verschiedenen Orchestern, unter anderem bei Anselmo Aieta. Für zwei Jahre war er Teil von Lomutos Orchester, lernte dadurch dessen Freund Francisco Canaro kennen, der ihn später unterstützte. Den Spitznamen El Colorado erhielt er wegen seiner in Argentinien seltenen rötlichen Haarfarbe.
In den späteren 30er Jahren spielte er mit seinem Orchester in verschiedenen Clubs und bei beliebten Radio-Sendungen. Eine besonders beliebte werktägliche Radiosendung bei Radio El Mundo war ›Glostora Tango Club‹, die 22 Jahre lang ausgestrahlt wurde. De Angelis‘ Orchester war das Hauptorchester dieser Sendung.
Diese Popularität sicherte ihm einen Plattenvertrag bei Odeon. Seine erste Aufnahme im Juli 1943 ist das schöne → Marioneta (mit Floreal Ruiz), auf der anderen Seite Que buena es mit seinem anderen Sänger Julio Martel.
Eine Besonderheit seines Orchesters: der musikliebende Vater Virgilo war einer der Geiger in seinem frühen Orchester. De Angelis führte das Orchester vom Klavier aus. Und so können wir ihn auf jeder Aufnahme hören. Es wird berichtet, dass auf dem Flügel immer zwei geöffnete Zigarettenschachteln lagen – als Kettenraucher hatte er eine 80-Zigaretten-Gewohnheit entwickelt, die später zu Lungenproblemen führte. Trotzdem lebte er lange und starb erst mit 80 Jahren.
Glosa
In jenen Tagen war es nicht ungewöhnlich, dass Orchester bei Bühnenauftritten einen speziellen Ansager, einen Glosador einsetzten, der das Orchester ankündigte. Das machten andere Orchester auch, aber die Besonderheit bei de Angelis ist, dass einige der sogenannten Glosas den Weg auf die Platte fanden. Diese Ansage wurde dramatisch-pathetisch von Nestor Rodi deklamiert. Ich mag die Glosas nicht besonders, ich blende sie, wenn ich an Milongas auflege, in der Regel aus.
Das tönt so: → Qué buena es & Cómo se muere de amor)
Das zweite Stück ist so schön, dass ihr es ganz hören solltet. Ich gehöre zu denen, die sofort aufspringen und diese schöne Komposition tanzen möchten. → Cómo se muere de amor (1943 mit Floreal Ruiz)
Unüberhörbar hat de Angelis einige bezaubernde Titel eingespielt, die einfach schön sind und die ich sehr mag. Hören wir hinein in ein paar der Interpretationen von de Angelis, um seinen Stil kennen zu lernen. Seinen ersten Hit → Marioneta haben wir bereits erwähnt. Dieser Titel wurde auch von Canaro, Lomuto und Troilo aufgenommen.
→ Pregonera (1945 mit Dante & Martel, eine Komposition von de Angelis). Im gleichen Jahr auch von → d‘Arienzo mit Laborde und von → Edgardo Donato mit Podesta eingespielt. Auch → Canaro hat 1945 diesen Erfolg mit Coral & Arenas kopiert, wobei er das Arrangement von de Angelis weitestgehend übernommen hat.
→ Volvamos a empezar - Lass uns neu beginnen (1953, mit der kraftvollen Stimme von Oscar Larroca, die ich gut mag)
Eine spanischsprachige Tanguera schrieb in ihrem Blog, dass sie das Stück nicht besonders mochte, weil sie dachte, es handele von einem Mann, der zu seiner verlassenen Frau und den Kindern zurückkehrt. ›Voilà, hier bin ich‹ - und wie glücklich sie ist, ihn wiederzusehen. Que macho! Als sie verstanden hatte, worum es wirklich ging, gewann sie den Tango lieb und schloss ihn ins Herz.
Die 5. Strophe ist die entscheidende für das Verständnis.
Con sombras de carcel lavé mi pecado
si acaso la cárcel lo puede lavar
los jueces de mármol nunca comprendieron
que a veces la vida te obliga a matar.
Es ist also die Geschichte eines Mannes, der nach verbüsster Haft überglücklich ist, zu Frau und Kindern zurückkehren zu können.
Hier eine weitere charmante Interpretation von de Angelis: → Fumando espero - Rauchend warte ich (1956 mit Carlos Dante) Eine schönere Lobpreisung des Rauchens kann es kaum geben...
Fumar es un placer, genial, sensual...
Fumando espero a la que tanto quiero *
tras los cristales de alegres ventanales…
(..)
Tendida en mi sofá, fumar y amar,
ver a mi amada feliz y enamorado,
sentir sus labios besar con besos sabios.
Dame el humo de tu boca
Dame que mi pasión provoca,
Corre que quiero enloquecer
De placer,
Sintiendo ese calor
Del humo embriagador,
Que acaba por prender
La llama ardiente del amor.
* ‘al hombre que yo quiero‘ bei weiblichen Sängern
Ist bei solch berauschenden Worten die Frage nicht naheliegend, ob da wirklich nur Tabak geraucht wurde…?
Diese bezaubernde Melodie von Juan Viladomat Masanas hat ihren Ursprung 1922 oder 1923 in Barcelona. Auf YouTube findet sich die spanische Version von 1925 (noch mit dem akustischen Aufnahmeverfahren). Die ersten, die diesen Tango in Argentinien aufnahmen, waren 1927 Ignacio Corsini (als Cancion mit Gitarrenbegleitung) und Rosita Quiroga (vermutlich mit dem Victor-Hausorchester), im gleichen Jahr folgte das OTV, Roberto Firpo, Francisco Lomuto und Fresedo mit Instrumentalversionen, Francisco Canaro mit einer gesungenen Version. → Hier eine unbekannte, schnell gespielte Instrumentalverversion von 1928 mit Trompeten und Tuba, vermutlich in Spanien aufgenommen.
Danach war es fast 30 Jahre still um diesen Tango, bis er 1955 wieder wachgeküsst wurde: zuerst von der wenig bekannten Elsa Moreno, kurz darauf kam die Veröffentlichung von Hector Varela mit Argentino Ledesma. 1956 folgte di Sarli wieder mit Ledesma, der diesen von Varela abgeworben hatte. Zwei Monate später erschien die hier vorgestellte Version von de Angelis. Di Sarli nahm im gleichen Monat das Stück nochmal auf, diesmal mit dem für meine Begriffe schwülstig singenden Roberto Florio. Von all den Versionen nach 1955 gefällt mir die von de Angelis am besten.
Zu rauchen ist geniessen, genial, sinnlich…
Rauchend warte ich auf die, die ich liebe
hinter den weiten Fensterscheiben…
(..)
Auf meinem Sofa liegen, rauchen und lieben,
meine mich liebende Geliebte glücklich sehen,
ihre Lippen fühlen, wie sie wissend küssen.
Gib mir den Rauch deines Mundes
gib, was meine Leidenschaft befeuert
Schnell, weil ich den Verstand verlieren möchte
vor Lust.
Diese Wärme
des berauschenden Rauches fühlend,
die letztlich
die glühende Flamme der Liebe angefacht hat.
Die freie deutsche Übersetzung lautet:
In den Schatten des Kerkers tilgte ich meine Sünden,
wenn ein Kerker überhaupt was tilgen kann.
Die versteinerten Richter werden nie begreifen,
dass das Leben manchmal zu töten dich zwingt.
(die versteinerten Richter sind im Original 'Richter aus Marmor')
Die wichtigsten Sänger bei de Angelis
De Angelis setzte in seinem Orchester von Anfang an zwei Sänger ein. Der erste Sänger war Floreal Ruiz, den ich gerne höre. Ruiz blieb nicht allzu lange bei de Angelis, sondern wechselte 1944 zu Troilo, zu jener Zeit das Traum-Orchester für jeden Sänger. De Angelis suchte einen zweiten Sänger. Der zwanzigjährige Julio Harispe hörte zufällig, dass bei Radio El Mundo ein Vorsingen für das Orchester von Alfredo de Angelis stattfand. Er meldete sich an und wurde unter Hunderten von Bewerbern ausgewählt. Bei der Feier seines Erfolgs bestellte Néstor Rodi, der Glosador des Orchesters, der auch der Sekretär von de Angelis war, einen Cognac. Der Kellner brachte ihm Martell, worauf Rodi dem jungen Sänger den Künstlernamen Julio Martel verpasste.
Als Ersatz für Floreal Ruiz holte sich de Angelis Carlos Dante (eigentlich Carlos Dante Testori) als zweiten Sänger.
Exkurs Carlos Dante
Dante war erst 22 Jahre alt, als er 1928 in d‘Arienzos erstem Orchester sang, vorher hatte er bereits mit Francisco Pracánico, mit Pedro Maffia, mit Anselmo Aieta und anderen Musikern und Gitarristen gesungen.
Francisco Canaro hörte ihn im Orchester von Maffia und überredete ihn, mit nach Frankreich zu kommen, wo sein Bruder Rafael Canaro in jener Phase des europäischen Tango-Fiebers grosse Erfolge feierte. Es folgten Touren nach Spanien (wo er 36 Aufnahmen machte), nach Lissabon, Athen und sogar Berlin. Der ursprünglich auf sechs Monate gedachte Aufenthalt dehnte sich auf fast vier Jahre aus. Nach seiner Rückkehr nach Buenos Airess sang Dante bei Caló.
De Angelis, der nach dem Weggang von Floreal Ruiz auf der Suche nach einem neuen Sänger war, erinnerte sich, dass er Dante früher in einem Theater kennengelernt hatte. Er gab Nestor Rodi, seinem Glosador und Sekretär, den Auftrag, Kontakt mit Dante aufzunehmen und ihm einen Vertrag anzubieten.
Zu jener Zeit hatte Dante nach den vielen Jahren genug vom fordernden und anstrengenden Künstlerleben, er wollte sich ins Privatleben zurückziehen. Als Rodi ihm das Angebot machte, im beliebten und erfolgreichen Orchester von de Angelis zu singen, fragte dieser ungläubig. »Wollte ihr mich verarschen? – Oiga, ¿usted me está cargando?«
Um den Zweifel und Widerstand von Dante aufzuweichen, schlug ihm de Angelis vor, für drei Monate die Sache auszuprobieren. Falls es ihn nicht befriedigen sollte, sei er frei zu gehen.
Aus den drei Monaten wurden dreizehn Jahre! Im Orchester von de Angelis machte Dante insgesamt 139 Aufnahmen. Die Zeit mit de Angelis wurde der Höhepunkt in Dantes Karriere, was ihm ermöglichte, den Traum eines eigenen Hauses zu verwirklichen.
José María Otero meint, dass Dante mit Julio Martel ›das beste Duo bildete, das es je im Tango gab.‹ Die Aufnahmen waren ›beeindruckende Hits, zu denen ganz Buenos Aires sang und tanzte‹. Er beschreibt Dante als charakteristische Tenorstimme, mit viel Musikalität in seinem ausdruckstarken Stil.
De Angelis erkannte schnell, dass Dantes Stimme gut zum Bariton von Martel passte. Martels Stimme war tiefer und hatte mehr Körper, Dante konnte höher aufsteigen – eine sehr gute Kombination, die de Angelis gerne bei seinen Aufnahmen einsetzte. Und so überrascht es nicht, dass vor allem gesungene Tangos im Repertoire von de Angelis auftauchen. Instrumental-Tangos gibt es deutlich weniger, und sie fallen musikalisch etwas ab gegenüber den Vokalstücken.
Hier das erste aufgenommene Duett der beiden: der oft gehörte, von Canaro komponierte Vals → Soñar y nada mas von (1944 mit Carlos Dante & Julio Martel). → Hier als Vergleich die 1943 erschienene Version von Canaro.
Julio Martel verliess das Orchester 1951, de Angelis ersetzte ihn mit der kräftigen Stimme von Oscar Larroca (siehe Volvamos a empezar). Auch mit ihm wurden wieder einige Duette aufgenommen. Später folgten noch andere Sänger wie Juan Carlos Godoy, die aber an die vorher genannten nicht heranreichen. Roberto Florio (ab 1958) gehört für mich definitiv zu der Kategorie der Schmalzsänger. Seinen Gesang finde ich übertrieben.
De Angelis hat neben den Tangos und Valses auch ein paar nette Milongas beigesteuert wie La Mañana; Del pasado; La Guitarrera.
Ich weiss, dass das Orchester von de Angelis von manchen DJs nicht sonderlich geschätzt wird. Als ich mal auf das Orchester von de Angelis zu sprechen kam, meinte eine bekannte DJane spontan: »Ach, dieses Pling-Pling-Orchester...«
Seine Musik wird beschrieben als leicht und romantisch. Der Ausdruck leichte, romantische Musik ist jedoch nicht immer als Kompliment zu verstehen. Seine Kritiker nannten es recht abschätzig 'Musica de calesita' – Karussell- oder Jahrmarkt-Musik. Zur Erinnerung: auch der erfolgreiche Juan d‘Arienzo wurde mit abschätzigen Kommentaren bedacht – es waren vermutlich die gleichen Leute. Den Tänzern jener Zeit war solche Kritik an de Angelis offensichtlich egal.
Das drückte sich darin aus, dass er in seiner Zeit sehr erfolgreich war. Seine Musik war nicht nur in Argentinien, sondern auch in ganz Südamerika äusserst beliebt, er hatte eine treue Fangemeinde an Radiohörern, und es war leicht für ihn, selbst grosse Tanzsäle zu füllen. 1948 wurde das Orchester von de Angelis bei der Leserumfrage einer Zeitung auf den ersten Platz gewählt – vor Pugliese, d‘Arienzo, Troilo und Caló! Das zeigte sich auch in den Plattenverkäufen, die deutlich über denen seines Kollegen Angel d‘Agostino lagen. Und für uns Tänzer soll diese recht clichéhafte Kritik auch egal sein.
Den Vorwurf, seine Musik sei einfach gestrickt, darf man nicht einfach so stehen lassen. Höre Dir den Tango → Compadron von 1949 mit Carlos Dante an. Achte darauf, wie der Sänger alleine die Melodie hält und wie die Instrumente ihm nicht folgen, sondern das Gesungene umspielen, z.B. ab 1 min 10. Bei 1.48 hören wir eine, wie ich finde, anregende, schnell gespielte Bandoneon-Variación.
Auch wenn seine Musik nicht die gekonnten rhythmischen Synkopierungen eines Miguel Caló oder die Komplexität eines Troilo hatte – es war eingängige Musik mit einem hohen Mass an Tanzbarkeit, ein rhythmisch auf den Punkt spielendes Orchester mit guten Sängern.
Eine andere Kritik: er sei zu softy. Das stimmt nur teilweise. In den späteren Jahren wird de Angelis allerdings zunehmend schmalzig-sentimental. Aber da ist er nicht alleine, diese Entwicklung gab es offensichtlich auch bei einigen anderen Orchestern!
Hören wir als Beispiel für diese Entwicklung Bajo el cono azul in den Versionen von 1944 (mit Floreal Ruiz) und 1958 (mit Roberto Florio). Die Version mit Florio ist nach meinem Geschmack arg süsslich.
De Angelis schaffte es, sein Orchester bis 1991 (!) zu halten – wahrlich eine Leistung bei den schwierigen Bedingungen nach der Epoca de Oro, als viele, auch namhafte Orchester die Segel streichen mussten. Die Musiker waren anscheinend zufrieden mit ihrem Orchesterleiter, denn es gab recht wenige Wechsel. Wie bei Pugliese war sein Orchester als Kooperative organisiert mit gleicher Bezahlung für alle Musiker. Individuelle Stars und entsprechende Eitelkeiten gab es nicht, und so finden wir auch in seiner Musik selten aus dem Rahmen fallende Solos.
Die schönsten Aufnahmen hat de Angelis, wie ich finde, in den vierziger und frühen fünfziger Jahren eingespielt, dabei sind einige charmante Vals-Interpretationen. Zu den bekannteren Kompositionen von de Angelis selbst gehören: Bajo el cono azul, Pregonera, Remolino, Pastora, Mi cariñito, Qué lento corre el tren.
Kurze Zusammenfassung:
Alfredo de Angelis hat besonders in den frühen Jahren einige schöne Tangos und Valses aufgenommen. Die Violinen sind bei ihm wichtig, die in höheren Lagen Umspielungen und Figurationen intonieren; die Bandoneons treten kaum hervor. Seine Musik hat einen eher leichten Charakter. De Angelis hatte gute Sänger, Instrumentaltitel sind selten, der grosse Teil seiner Aufnahmen sind gesungen. Auch wenn es schon früher Gesangsduette gab, so hat de Angelis sie mit Martel und Dante (später mit Dante und Larroca) populär gemacht. Beim Publikum fand er grossen Zuspruch. Seine Aufnahmen sind mehrheitlich auf CD erschienen.
In den späten 50er Jahren wird sein Stil weicher bis hin zu kitschig. Seine späteren Sänger hatten nicht mehr die gleiche Klasse. Diese späteren Titel werden zum Glück recht selten bei den Milongas gespielt.
Bailemos Tango !
Tango-DJ Michael KI im Mai 2021, letzte Ergänzung 05/2022
Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen
zusätzlich: – https://www.todotango.com/english/artists/info/14/Alfredo-De-Angelis
– https://milongandoblog.wordpress.com/2017/02/02/alfredo-de-angelis-biografia/
– Biographie von J. Bieler in Tangodanza Nr. 8
– Discographie: https://www.el-recodo.com/music?O=Alfredo%20DE%20ANGELIS&lang=es