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Die Legende der 600 Tango-Orchester in Buenos Aires –
eine kritische Buchbesprechung

›Tango‹ von Michel Plisson  (Palmyra-Verlag 2002; franz. Erstausgabe 2001)


Michel Plisson ist (oder war) Musik-Ethnologe an der Universität Sorbonne in Paris und schrieb 2001 das Buch Tango. Ich habe mir das Buch vor allem gekauft, weil in ihm (auf S. 99) die Behauptung zu lesen ist, dass es in Buenos Aires Ende der vierziger Jahre (!) »nicht weniger als 600 Orchester…« gegeben haben soll. Ich wollte natürlich wissen, wie er auf eine solch hohe Zahl kommt. 


    Leider geschieht es, dass solche beeindruckend-fantastischen Zahlen ohne Nachprüfung gerne zitiert werden – und mit der Zeit wird aus einer fragwürdigen Sekundärquelle so etwas wie eine nicht hinterfragte Legende: »Wie allgemein bekannt gab es in Buenos Aires Ende der vierziger Jahre mehr als 600 Orchester….«

Nennt Plisson etwa diese Orchester? Natürlich nicht. Er führt auch nicht im Geringsten aus, wie er auf diese fantastische Zahl kommt oder woraus er sie ableitet. Er gibt keine Quellen, nicht die geringste Evidenz an. Diese Zahl steht einfach als Behauptung da. Meines Wissens wird diese Zahl auch von keinem anderen Autor, der sich mit dieser Zeit auskennt, bestätigt. Bezeichnend ist, dass Plisson es nicht mal schafft, die wichtigsten zwanzig Orchester der Epoca de Oro zu nennen. Beim Lesen des Buches sollte jedem Tango-Aficionado, der sich mit der Geschichte des Tango etwas auskennt, spätestens hier der Verdacht kommen, dass Plisson sich nicht wirklich mit dem Tango argentino beschäftigt hat. 

In dem Buch finden sich viele Fehler und einige Ungereimtheiten. In Plissons neunseitiger (!) Discographie werden gerade mal 15 der Orchester der Epoca de Oro aufgeführt. Angel d'Agostino, Lucio Demare, Domingo Federico, Roberto Firpo, Francisco Lomuto, Ricardo Tanturi und einige andere werden nicht aufgeführt. Roberto Firpo war nach Canaro derjenige Orchesterleiter mit den meisten Aufnahmen (laut M. Lavocah mehr als 2000 Schallplattenaufnahmen) und eine wichtige Persönlichkeit in der Entwicklung des Tango. Er fehlt in der Discographie völlig. Der Sänger Alberto Castillo, der bei Tanturi gross wurde und der sich erst 1943 von ihm trennte, wird hingegen erwähnt. Ist Plisson bei seiner recht willkürlichen Discographie einfach seinen Musikschrank durchgegangen?

Die wichtigste und kreativste Periode des Tango ist die sogenannte Epoca de Oro, die Zeit von etwa 1935-1955. Bei Plisson wird sie nur recht oberflächlich gestreift. Juan d'Arienzo, der eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung des Tango ab 1935 spielte, wird in dem Buch nur kurz erwähnt. (S. 94) 

Schauen wir Plissons Aussage auf dieser Seite mal genauer an. 

»… der Tod von Gardel 1935, wirkte sich negativ auf die Kreativität im Tango aus. Nur einige wenige Orchester konnten überleben, dank Musikern, die ihren Orchesterleitern die Treue hielten, aber sie verloren zum Teil den Kontakt mit dem grossen Publikum. Unter ihnen war das orchesta típica des Geigers Juan d'Arienzo (1900 - 1976) (mit dem Pianisten Rodolfo Biaggi und dessen typischen Stakkato-Rhythmus), der im Nachtlokal Chanteclair spielte und Ballmusik bevorzugte.«  (Zitatende)

Bei solchen Aussagen stehen einem die Haare zu Berge! So viele Fehler und Ungereimtheiten in einem so kurzen Abschnitt. Das Sterben der Orchester begann erst 1955. Und warum soll der Tod von Gardel sich negativ auf die Kreativität im Tango ausgewirkt haben? Gardel war ein guter und zweifellos der bekannteste Sänger, er hatte ein gutes Gespür für den Zeitgeist, aber die eigentlichen Kreativen waren die Komponisten, die Dichter und die Arrangeure. Im Gegenteil – die Phase der grössten Kreativität setzte nach Gardels Tod, vor allem anfangs der 1940er Jahre ein (Laurenz, Tanturi, Troilo und einige andere Orchester, die nach Gardels Tod gegründet wurden). Ausserdem gab es in jener Zeit neben Gardel weitere wichtige und bekannte Sänger (I. Corsini, A. Maizani u.a.), aber der Autor erwähnt sie kaum, als ob Gardel der einzige erwähnenswerte gewesen sei.

Das Nachtlokal hiess übrigens richtig Chantecler, der Name des Pianisten war Rodolfo Biagi, er war nur von 1936-38 bei d'Arienzo, bevor er sein eigenes Orchester gründete, und d'Arienzo wurde bereits vor 1935 'Rey del compas' genannt. Die Aussage, dass Juan d'Arienzo Ballmusik bevorzugt haben soll, ist völlig daneben – spätestens jetzt sollte man des Autors mangelnde Sachkenntnis erkennen.

Apropos Fehler – bei Plisson wird Pedro Laurenz zu Laurentz, und der Bandoneonist und Orchesterleiter Ciriaco Ortiz bekommt den neuen Vornamen Ciriano. Aber das sind angesichts solcher Aussagen wie oben kleinere Fehler.

Auf Seite 103-4 verbreitet der Autor sein Nichtwissen über Troilos Orchester »... es wurde 'à la parilla' * gespielt, ohne komplizierte Arrangements, mit Soloeinlagen von Troilo am Bandoneon…«. In Wirklichkeit war Troilos Orchester bekannt für seine durcharrangierten Kompositionen und die präzise, lang eingeübte Spielweise.

Die wichtigste und kreativste Phase des Tango, die später die Epoca de Oro genannt wurde, wird in Plissons Buch auf weniger als 25 Seiten abgehandelt. Gerade über diese Zeit, die vor Kreativität richtiggehend explodierte, gäbe es weit mehr zu schreiben. Plisson macht unter anderem die Aussage (bei der man wieder nur verwundert den Kopf schütteln kann): »Die einzige Neuerung in dieser Zeit war die Rückkehr der Milonga in den Kompositionen von Sebastián Piana.« (S. 95). Anstatt über die fruchtbarste Zeit des Tangos zu schreiben mit all ihren Entwicklungen, verliert er sich stattdessen auf vielen Seiten in Vermutungen über die Ursprünge dieser Musikgattung.

Um es kurz zusammenzufassen – das Buch hat etwas Willkürliches an sich. Osmar Maderna (er war früher Pianist bei Miguel Calo) wird im Gegensatz zu anderen Orchestern recht ausführlich besprochen. Der finnische Tango wird ebenso erwähnt. Warum? Viele Fachausdrücke (quijada, charrasca, cinquillo – wer muss in Bezug auf Tango wissen, was das ist?) und die Erwähnung sehr vieler Namen wollen beeindrucken und täuschen Fachwissen vor (Pastor Sigfredo, Yvette Horner, Tomás Gubitsch u.v.a.– ist es wichtig, sie zu kennen?). Warum nennt er in einem Buch über den argentinischen Tango G. Gershwin, und warum schweigt er sich über Leute wie Adolfo Carabelli, die wirklich etwas mit dem Tango zu tun hatten, aus? (Dieser hatte ein eigenes Tango-Orchester und war musikalischer Leiter des Orquesta Tipica Victor). Es gibt zwar einen Namensindex in dem Buch (und der wird länger, wenn man Gershwin und George Moustaki, die mit dem Tango nichts zu tun haben, erwähnt), aber die Quellenangaben, die weitaus wichtiger wären, fehlen.

Der ungleich grössere Teil des Buches handelt von der Frühzeit des Tango und von der Zeit nach 1955, Piazzolla bekommt viel Raum. Auch die angeführten Musikbeispiele auf der beiliegenden CD belegen dies: der Tango nuevo (Piazzolla & Co) und Aufnahmen aus der Frühzeit (vor 1935) nehmen den grössten Teil ein. Die höchst kreative Zeit von 1938 - 1946 ist (unglaublich, aber wahr) mit nicht einmal einer Aufnahme vertreten. 


Wenn man versucht, Plissons Zahl unvoreingenommen zu verifizieren, und selbst, wenn man jede Formation mitzählt, die in der Literatur erwähnt wird (wie z.B. die von Luis d'Abraccio, der 1937 vor Troilo im Cabaret Marabu spielte, aber keine Schallplatten aufnahm; oder der kaum bekannte Alfredo Fanuele, der in der Biographie von Roberto Rufino erwähnt wird), und selbst, wenn man die Zeitspanne von 1935 bis Ende der Fünfzigerjahre ausdehnt, kommt man nicht mal annähernd in die Nähe dieser Zahl.
Dazu stellt sich die Frage, ob man z.B. die verschiedenen Formationen von Francisco Canaro, so sein Quinteto Pirincho, als separates Ensemble zählt, auch wenn es nur eine Teilformation seines Orchesters war? In der Tangogeschichte tauchen auch die Namen verschiedener Orchester auf, die eigentlich keine eigenständigen waren. Zum Beispiel heisst es auf dem Plattenlabel von Un reproche und Desencanto »Enrique S. Discépolo y su Orquesta Tipica«. Discépolo hatte zwar die Lyrik für beide Titel und die Musik für Desencanto geschrieben, aber es ist nicht bekannt, dass er ein eigenes Orchester gehabt hatte. In Wirklichkeit war es das OT Victor, das die Sängerin, seine Frau Tania, wie viele andere Sängerinnen und Sänger jener Zeit, begleitete. 


Auch wenn ich befreundete DJs mit noch umfangreicherer Tango-Sammlung als der meinen befrage, sind alle bei weniger als 200 Orchestern, und wenn man es auf den von Plisson genannten Zeitraum Ende der 1940er Jahre beschränkt, sind es noch deutlich weniger. 

Es ist bekannte Tatsache, dass es einige Tango-Formationen gab, die keine Plattenaufnahmen machen konnten. Dennoch ist die von Plisson genannte Zahl so fantastisch, dass sie keiner näheren Nachprüfung standhält, selbst wenn diese noch so nachsichtig ist und man jede kleine, irgendwo erwähnte Krümelkapelle mitzählt. Auf eine realistische Zahl zu kommen wäre Aufgabe einer akribischen Doktorarbeit.

Es gäbe noch einiges zu kritisieren an diesem Buch. Wer dieses Buch schon hat, möge zum Beispiel Plissons (wie ich finde: oberflächliche) Aussagen über das Lunfardo mit denen von Dieter Reichardt vergleichen.

Solche Bücher von intellektuellen Musiktheoretikern, die mit ihren Aussagen mehr Verwirrung schaffen als Fragen beantworten, brauchen wir nicht. Schade um die Lebenszeit, die man damit verbringt. Ein ärgerliches Buch.



* à la parilla - wörtlich: auf dem Grill, ein Ausdruck für improvisiertes Spielen



© Michael KI, im Januar  2020                                (ein Auszug dieser Buchkritik erschien in der Tangodanza)