Carlos di Sarli – El Señor del Tango  (1903 - 1960)

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‍ Carlos di Sarlis Schaffen kann man in drei Hauptperioden einteilen: 

– die frühe Periode mit seinem Sextett bis 1931

– der Neuanfang 1939

– die spätere Periode, als seine Tangos langsamer und streicherbetonter wurden


Die frühe Periode bis 1931

Miguel di Sarli war ein nach Argentinien ausgewanderter Italiener. Als seine erste Frau starb, zog er mit seinen drei Kindern nach Uruguay. Dort heiratete er erneut und hatte mit seiner Frau vier weitere Kinder. Aufgrund des Bürgerkriegs in Uruguay zog Miguel mit seiner Familie nach Bahia Blanca in Argentinien, etwa 600 km südlich von Buenos Aires. 1903 kamen dort Cayetano, der später unter dem Namen Carlos di Sarli bekannt werden sollte, und sein jüngerer Bruder Roque zur Welt. Er wurde eine musikalische Familie hineingeboren, seine Mutter Serafina spielte Klavier und unterrichtete ihn und Roque. Später erhielt er eine klassische Ausbildung bei einem Musikprofessor und lernte Chopin, Liszt, Beethoven und Bach spielen.

Carlos di Sarli wird immer mit dunkler Brille abgebildet. Das war nicht etwa ein Modegag wie bei heutigen Stars oder Sternchen, sondern Folge eines Unfalls des damals 13-Jährigen mit dem Gewehr seines Vaters. Dabei verlor er das rechte Auge, die dunkle Brille verbarg ein Glasauge und sollte sein Augenlicht schützen. Das Ereignis hinterliess seine Spuren in der Psyche, di Sarli reagierte empfindlich, wenn zum Beispiel ein Impresario ihn aufforderte, ohne die dunkle Brille zu spielen. Er war stolz und sehr schnell gekränkt.

Mit dem Tango kam er in Berührung über die Schallplatten von Arolas und Firpo. 1917 zog er nach Santa Rosa, wo ein Freund seines Vaters ein Kino und einen Club hatte. Dort begleitete der junge Carlos Stummfilme auf dem Klavier und spielte Tangos im Club. 

1921 hatte er die Gelegenheit, zwei der grössten damaligen Tangostars, Carlos Gardel und Roberto Firpo, in Bahia Blanca zu hören und zu bewundern. Jede Nacht ging er ins Teatro Municipal, sein Nachbar arbeitete dort als Bühnenarbeiter und schleuste ihn herein.


1923 zog Carlos mit seinem jüngeren Bruder Roque nach Buenos Aires. Sie hatten es am Anfang nicht leicht. Ihre Kontaktperson in der Grossstadt war Alberico Spatola, der Komponist des Tangos El Trece, ein entfernter Verwandter der di Sarlis und Leiter des Polizeiorchesters von Buenos Aires. Dieser führte ihn bei Anselmo Aieta ein, in dessen Ensemble er für eine Weile spielte.

Sein Freund, der Geiger José Pecora, vermittelte ihm einen Kontakt zu Osvaldo Fresedo, bei dem er vorspielen konnte. Fresedo war beeindruckt und wollte ihn gleich engagieren. Fresedo war zu der Zeit sehr erfolgreich und leitete drei Sextette: eins im Cabaret Tabaris, das zweite im Casino Pigall und das dritte in der Bar Fresedo. Anlässlich der Einweihung des Kinos Fénix erhielt er das verlockende Angebot, auch dort zu spielen. Fresedo lehnte höflich ab, dass das für ihn kaum noch möglich sei. Der Inhaber schlug ihm daraufhin vor, dass er ein neues Orchester zusammenstellen und er nur in der Pause auftauchen sollte.

Fresedo stellte ein viertes Orchester zusammen und bat di Sarli es zu leiten. Mit nunmehr vier Orchestern begab sich Fresedo von einem Veranstaltungsort zum anderen und verbrachte dort, je nach dessen Prestige, mehr oder weniger Zeit. Mit dem Auto fuhr er vor das Kino, um rechtzeitig zur Pause zu kommen. »Fresedo selbst erschien nur flüchtig, spät in der Nacht. Er nahm das Bandoneon, spielte ein wenig gemeinsam mit uns und nutzte dann die Dunkelheit im Saal, um zu verschwinden.« (nach O. Zucchi, der C. Ginzo, einen Musiker dieses Ensembles zitiert)

Fresedo erhielt kurz nach der Öffnung des Fénix ein weiteres Angebot. Er sollte zur Wiedereröffnung des Paramount Theatre spielen. Fresedo lehnte ab, da die Leitung eines weiteren Orchesters ihn zeitlich überfordert hätte. 


‍ Nach verschiedenen kurzlebigen Engagements bekam di Sarlis Formation – wieder dank seines Freundes Pecora – eine feste Anstellung im Café Guarani. Sie hatten dort einigen Erfolg und blieben sieben Monate lang als Stammgruppe. Ausserdem spielte das Sextett in einem Kino und bei Radio LR10 Cultura.

Für die Bekanntheit eines Ensembles war ein Plattenvertrag wichtig. Im Oktober 1928 reiste Osvaldo Fresedo mit den Musikern seines Stammorchesters für eine langdauernde Tour nach Europa, die zusätzlichen Orchester löste er auf. Dass di Sarli bei Fresedo eine Formation geleitet hatte, war eine Empfehlung, und so kam es, dass sein Sextett von Victor 1928 unter Vertrag genommen wurde. Von November 1928 bis August 1931 spielte er dort 48 äusserst hörenswerte Aufnahmen ein.  

Seine erste Aufnahme am 26.11.1928 war → T.B.C. - laut O. Zucchi der Name eines Clubs in Montevideo, laut anderen Interpretationen sei es eine lautmalerische Anspielung für Te besé – Ich habe dich geküsst, oder auch für Tuberkulose (das in jenen Jahren eine tödliche Krankheit war). Die Anspielung auf Te besé ist auf den ersten Blick die naheliegendste, denn bei den gesungenen Versionen dieses Titels kommt mehrmals das Wort Besame - küss mich vor. Jedoch wurde der Text nachträglich verfasst, es ist gut möglich, dass einfachheitshalber die sinnliche Interpretation gewählt wurde. Der Instrumentaltitel kommt recht langsam daher und erinnert an den damals von Fresedo gespielten Stil (siehe die dortigen Musikbeispiele).

In den folgenden Aufnahmen hören wir mehr von di Sarlis Klavierspiel. Die aufmerksamen Zuhörer erkennen bereits im Sextett die in späteren Jahren stärker hervortretenden Elemente, die di Sarlis Stil ausmachen: der zurückhaltende Einsatz der Bandoneons (die hier im Sextett aber noch gut zu hören sind), das stärkere Hervortreten der Violinen und das wichtige Akzente setzende Klavierspiel. Dazu kommt ein treibender Beat, der mit einem Arrastre den ersten und dritten Schlag jeden Takts betont (in der deutschen Übersetzung von Lavocahs Buch ‘laufender Takt‘ genannt). Der Grundschlag des Klaviers ist zum Glück nicht monoton durchgehend, er lockert es gekonnt immer wieder mal mit einer kurzen Pause auf. Wenn man genauer auf di Sarlis Klavierspiel achtet, vor allem darauf, was er in den tiefen Lagen mit der linken Hand macht, hört man manche Feinheit. Leider sind die Aufnahmen aus jener Zeit noch nicht so gut, dass man die Bässe gut heraushören kann, aber es sollte reichen, um manch überraschende Synkopierung in di Sarlis Basslinie zu erkennen. 

→ Flor marchita (verdorrte Blume, 1929)  Der treibende Taktschlag ist kräftiger geworden, bei 1.50 ein kurzes Bandoneonspiel, gleich beantwortet von di Sarlis kurzer Klaviereinlage, bevor die Bandoneons, der Bass und die tiefen Lagen des Klaviers den laufenden Takt weitertreiben. Im letzten Teil, ab ca. 2.32 spielen die Violinen eine Gegenstimme über dem rhythmusbetonten Spiel der Bandoneons. Einfach, aber gut.

→ Cicatrices (Narben) 1930 mit Santiago Devincenzi. Dieser Tango wurde von verschiedenen Orchestern eingespielt – nach dieser Version folgte Biagi 1940 (mit Falgas) und d‘Arienzo 1942 (mit Mauré), aber diese gefällt mir am besten. Wenn man genau hinhört, kann man gleich am Anfang (etwa bei Sekunde 8) eine Synkope in di Sarlis Klavierspiel erkennen. Diese Synkopierung kann man immer wieder mal hören, zum Beispiel bei 0.30 unterhalb des Bandoneonspiels. »Unauslöschliche Narben aus einer stürmischen Vergangenheit, die das Schicksal mir gebracht hat und die ich nie verlieren werde.« Devincenzi bringt die Lyrik, die von einem Rivalenkampf um eine Frau handelt, gut rüber. Ein schönes Stück, das mit seinem Rhythmus zum Tanzen auffordert.

→ Chau pinela  1930 mit Ernesto Famá. Ein Tango mit dem Monolog eines Kerls, der trotz allem Macho-Gehabe am Ende gegen die Frau verliert. Er will sie rauswerfen. »Mujeres como vos Se encuentran un millión..  Frauen wie dich findet man millionenmal! .. Pack deine Sachen und komm nie, niemals zurück!« Aber vielleicht quasselt sie ihn zu, und am Ende entschliesst sich er, die Flucht zu ergreifen. »Cacho yo mi bagayo, y: Chau, pinela, chau!«Chau Pinela als Ausdruck mit der Bedeutung von ‘Ende der Diskussion‘.

Der Tango kommt ein bisschen schneller daher, ein treibender Takt mit einem starken arrastre. Nachdem der Sänger bei ca 1.30 geendet hat, übernehmen die Geigen in hohen Lagen, um nach einem kurzen Zwischenspiel von di Sarli von den Bandoneons abgelöst zu werden. Ab ca. 1.54 die Violinen in zwei Lagen, wobei die tiefere eine einfache Gegenmelodie intoniert. Danach machen die Bandoneons mit ihrer Rhythmusarbeit weiter, unterstützt vom Bass und der linken Hand des Pianisten, wobei die Geigen zuerst in einer tiefen Lage eine Gegenmelodie spielen, die dann bis zum Schluss in höhere Register übergeht. Schön  und vergnüglich.  


Von den Aufnahmen des Sextetts gab es nicht allzu viele CDs. Eine davon ist ›Las Primeras Grabaciones 1928-1931‹ vom Label Blue Moon (BMT-020). Die Klangqualität ist nicht besonders, aber der grössere Mangel ist, dass die Aufnahmen des Sextetts beim Transfer auf CD schneller überspielt wurden. Einige Zeit später folgte von Euro Records in der Reihe 78rpm die CD ›Carlos di Sarli 1928-31‹ mit besserer Klangqualität und korrekter Geschwindigkeit.  (Wen es interessiert, kann die beiden Stücke Cicatrices und Belen miteinander vergleichen. → Hier zum Vergleich die zu schnell überspielte Version von Cicatrices.) 

Neuerdings haben wir dank TangoTunes die Möglichkeit, auch Stücke aus jener Zeit zu hören, die auf diesen CDs nicht vertreten waren.


Schwierige Zeiten

Im Oktober 1929 brach die Weltwirtschaftskrise aus. Auch wenn die Weltwirtschaftskrise Argentinien weniger stark betraf als die Länder Nordamerikas und Europas, so kam es dennoch in Argentinien zu einem wirtschaftlichen Einbruch. Die Industrieländer bauten in Folge der Weltwirtschaftskrise Handelsbarrieren auf, so dass Argentinien mit seiner exportorientierten Wirtschaft ebenfalls von der Krise betroffen war. Der Aufschwung in Argentinien setzte erst in der 2. Hälfte von 1932 wieder ein.

Die Krise hatte Auswirkungen auch auf die Musikindustrie in Argentinien. Dazu kam ein weiterer Umstand: mit dem Einzug des Tonfilms (ab 1930) verloren die Tangomusiker, die früher die Stummfilme begleitet hatten, diese Einkommensmöglichkeit.

1930 gab das Plattenlabel Electra (bei dem d‘Arienzo seine ersten Aufnahmen gemacht hatte) auf. Die Schallplattenfirma Columbia wurde 1931 von der neu gegründeten EMI (Electric and Musical Industries) aufgekauft, daraufhin zog sich die Unterabteilung von Columbia aus Argentinien zurück. Das bedeutete das Ende der Plattenverträge für Antonio Bonavena, Anselmo Aieta, Pedro Maffia und andere. Brunswick machte noch eine Weile weiter, aber ging Ende 1932 in Argentinien pleite. (→ siehe dort)

Das hatte zur Folge, dass in Argentinien für die folgenden zwei Jahrzehnte die beiden grossen Firmen Odeon und RCA Victor das Sagen hatten und den Markt bestimmten. Die mangelnde Konkurrenz führte dazu, dass manche Orchester Knebelverträge erhielten (Tanturi, Troilo u.a.) und – noch schlimmer – einige gute Tango-Orchester, wie zum Beispiel das von Juan Polito nach dem Weggang von Juan d‘Arienzo, keinen Schallplattenvertrag erhielten.

Pugliese beschrieb die Zeit der frühen 1930er Jahre als Zeit des grossen Elends, als die Musiker nach Arbeit suchten.


‍ Für die Periode nach 1931 liegt vieles im Dunkeln, die Nachforschungen von Lavocah haben etwas Licht in die Zeit nach 1931 gebracht und erklären das Verschwinden von di Sarli wenigstens teilweise.

Di Sarli spricht vermutlich diese Periode an, als er in einem späteren Interview erzählte: »Aber es gab Tage, an denen ich so viel Hunger hatte, dass ich nicht einmal mehr wusste, ob ich Appetit hatte.«

Laut Lavocah kündigte RCA-Victor den Plattenvertrag mit di Sarli. Seine letzte Aufnahme war Maldita vom 14.8.1931. Di Sarli fand noch kurze Zeit (bis 1932) Arbeit bei Brunswick, wo er mit seinen Musikern eine Sängerin begleitete. Sein Name wurde aber auf dem Schallplatten-Etikett nicht mehr erwähnt, was auch die Einnahmen für ihn reduzierte. Der Sänger Ernesto Famá verliess di Sarli und machte bei Francisco Canaro weiter. Das Sextett arbeitete als Tanzorchester weiter und spielte im Casino Pigall. 1934 verliess di Sarli das Orchester, zog sich nach Rosario zurück, während die Musiker als Tipica Novel in verschiedenen Etablissements mit einem anderen Pianisten spielten. 1935 kehrte di Sarli kurz zurück, um den Pianisten, der krank geworden war, zu ersetzen. Auf der Suche nach Arbeit schrieb er die Musik für den Film Loco lindo. Aber statt Geld zu verdienen, musste er für die Vermittlung dieses Engagements noch draufzahlen. 

1936 will di Sarli ein neues Orchester zusammenstellen, sein jüngerer Bruder Roque, der ein eigenes Orchester hatte, machte ihm das grosszügige Angebot: »Nimm dir die Musiker, die du brauchst.« Das neue Orchester spielte im Kabarett Moulin Rouge, die Anstellung war aber nicht von langer Dauer. Di Sarli schlug sich als Ersatzpianist bei Radio El Mundo durch, danach verschwand er von der Bildfläche und tauchte erst gegen Ende 1938 wieder in Buenos Aires auf.


Der Neuanfang 1939 mit Roberto Rufino

Ende 1938 stellte di Sarli sein neues Orchester zusammen, am 1. Januar 1939 hatte er sein Debüt bei Radio El Mundo. Jedoch hatte er keinen allzu grossen Erfolg, sein Orchester bekommt nur eine Sendung pro Woche. Wegen des mangelnden Erfolges verliess ihn sein damaliger Sänger Ignacio Murillo, der zu Firpo abwandert. Aber das war kein allzu grosser Verlust. 

In jener Zeit hatte es einen Wandel gegeben in der Gunst des Tango-Publikums – gesungene Tangos wurden beliebter. Deshalb war di Sarli auf der Suche nach einem guten Interpreten. Seine Freunde machten ihn auf einen jungen Sänger aufmerksam, der im Café Nacional unter anderem seine Komposition Milonguero viejo sang – Roberto Rufino, zu dem Zeitpunkt gerade mal 16 Jahre jung. Di Sarli gefiel die Interpretation, denn die Stimme des Jungen war umfassend: kraftvoll, dramatisch und romantisch.

Di Sarli lud ihn zum Vorsingen im Café Nacional ein, Rufino wählte das schwierige Stück Alma de bohemio. Di Sarli fragte nach: »Hör mal, das ist ein schwieriges Stück…« Der Junge zuckte mit der Schulter, das Klavier spielte die Einleitung, und Rufino traf den Ton und die lang gehaltene Passage perfekt. Di Sarli war beeindruckt, schloss den Tastendeckel, stand auf und umarmte den Jungen wortlos.

Da Rufino minderjährig war, musste seine Mutter den Vertrag unterschreiben. Das Orchester von di Sarli spielte im Moulin Rouge – als Rufino bei einem seiner ersten Auftritte nicht erschien, stellte sich nachträglich heraus, dass der Türsteher den Minderjährigen nicht hereingelassen hatte. Damit man nicht sah, dass Rufino kurze Hosen anhatte, stellte man ihn hinter das Klavier. Wenn es eine Polizeikontrolle gab, liess der Geschäftsführer als Warnzeichen zweimal die Glocke läuten, di Sarli warf dann einen Mantel über den Jungen und führte ihn durch einen Hintereingang nach draussen. Danach liess di Sarli einen Anzug für Rufino schneidern. Die Probleme hatten aber erst ein Ende, als di Sarli eine richterliche Erlaubnis für den Minderjährigen erwirkte.

Mitte 1939 kehrte di Sarli zum Radio El Mundo zurück, aber diesmal mit sieben Sendungen pro Woche. Kurz darauf folgte ein Plattenvertrag mit RCA Victor. Bereits die erste Aufnahme Ende 1939 → Corazón mit Roberto Rufino wurde zum grossen Erfolg (auf der anderen Schallplattenseite der Instrumentaltitel El retirao). Ist es nicht erstaunlich? – ein erst 17-jähriger Jüngling singt von der grossen Liebe, als hätte er in diesem Alter bereits alle Höhen und Tiefen dieses Gefühls erfahren…  Aber er singt so gut, dass man die Interpretation des Jungen glaubt.


Carlos di Sarli und seine Sänger

Roberto Rufino war zwar ein grossartiger Sänger, aber vermutlich wurde der Junge zu schnell vom Erfolg überwältigt. Er verdiente auf einmal 3000 Pesos im Monat (zu der Zeit eine riesengrosse Summe), und die Frauen himmelten ihn an. Er versuchte, wie ein Profi zu handeln, er hatte aber ein zu sorgloses Naturell. Es stellte sich heraus, dass der Ruhm ihm nicht gut tat, er unzuverlässig handelte, wiederholt nicht auftauchte und seinen Mentor mehrmals verliess.

Im Jahr 1940 finden wir zwei andere Sänger in der Aufnahmeliste. Mit Antonio Lesende wurde die → Milonga del centenario aufgenommen. Lesende macht seine Sache gut, aber er war nur Ersatz für die Fälle, wenn Rufino krank war oder aus anderen Gründen fehlte. Später im Jahr musste di Sarli wieder einen Ersatz finden für eine Abwesenheit von Rufino, diesmal war es der Sänger Augustin Volpe, der aber auch von dannen zog, als Rufino wieder zurückkehrte.

Di Sarli schenkte 1941 Rufino mit den Worten ›Ein Sänger fährt nicht mit der Strassenbahn zu seinen Auftritten‹ ein Auto. Trotzdem verliess Rufino im Juni di Sarli, um sich einem wenig bekannten Orchester anzuschliessen, mit dem er in Chile auf Tournee ging. In der Aufnahmeliste sehen wir, dass di Sarli mit Carlos Acuña während der Abwesenheit von Rufino einen weiteren Sänger anheuerte, mit dem er den Tango Cuando el amor muere aufnahm. Der Sänger hält den Vergleich mit Rufino nicht stand, es bleibt bei dieser einen Aufnahme.

1942 wurde Rufino 20 Jahre alt und musste den Wehrdienst ableisten, jedoch im Gegensatz zu den ‘Gewöhnlichen‘ nur für 6 Monate. Das war der Grund, dass 1942 den Sänger Alberto Podestá (eigentlich Alejandro Washington Alé) von Miguel Caló abwarb. Auch dieser Sänger war erst 17 Jahre alt, hatte eine kräftige Stimme und erhielt von di Sarli den Künstlernamen Alberto Podestá verpasst. Bei dem grossen und bekannteren di Sarli zu singen, bedeutete für den jungen Podestá einen Aufstieg – und bessere Bezahlung: »Bei di Sarli verdiente ich pro Auftritt so viel wie vorher bei Caló im Monat.« Er verliess Caló, der ihn entdeckt und auf die Bühne gebracht hatte, und unterschrieb ohne gross zu zögern bei di Sarli, wie er später in einem Interview erzählte. Die erste Einspielung war → Al compás del corazón – diesen potentiellen Hit hatte Podestá quasi im Gepäck, als er zu di Sarli wechselte. Domingo Federico, der als Bandoneonist zu Calós Orchester gestossen war, hatte seine Komposition Al compás del corazón seinen Kollegen vorgespielt, unter den Zuhörern war auch Podestá.

Podestá passt mit seiner Stimme gut zum Orchester von di Sarli, und di Sarli machte 1942 mit ihm zwölf Aufnahmen (mit Rufino wegen dessen Militärabwesenheit nur sieben). 

Aus dieser Zeit möchte ich, damit wir nicht immer bei den Tangos bleiben, zwei Milongas vorstellen: → Entre pitada y pitada (pitada: das Ziehen am Glimmstengel) und die recht wenig gespielte, dafür ungewöhnliche Milonga mit nicht durchgängigem Takt → Julian Centeya. (Centeya - so sein Künstlername, war eine bei den Tangokünstlern sehr bekannte Persönlichkeit. Er hatte die Milonga ›(Me llaman) Julian Centeya‹ getextet und nahm danach den Namen dieser Milonga an. Poet, Schöpfer und Textdichter verschiedener Tangos wie La vi llegar, Lluvia de abril u.a.)

Podestá wurde nicht wirklich glücklich bei di Sarli. Das lag vor allem an Rufino, der sich mit dem Konkurrenten nicht abfinden konnte. Rufino verhielt sich zickig bei den Live-Auftritten, er wollte im Rampenlicht stehen. Wenn er fünf Lieder sang, durfte Podestá gerade mal eines singen. Ende August änderte sich die Situation, denn Rufino verliess di Sarli mal wieder, aber nach wenigen Wochen kehrte er wieder zurück. Podestá verliess nun seinerseits di Sarli, ohne Einhaltung der Kündigungsfrist, und ging für ein paar Aufnahmen zu Caló zurück. Anscheinend mit Billigung von di Sarli, der einsehen musste, dass seine beiden Sänger nicht gut miteinander auskamen.

Aber Rufino überlegte es sich wieder anders und verliess di Sarli Ende September, um dem wenig bekannten Orchester von Emilio Orlando beizutreten. Auch später wechselte er oft die Orchester, so dass er den wenig schmeichelhaften Spitznamen ›El Rey del pase‹ (der Wechselkönig) erhielt. 1943 kehrte Rufino mal wieder zurück und blieb für längere Zeit – alle Vokaltangos wurden in diesem Jahr mit ihm aufgenommen. Auf Ende März 1944 reichte Rufino wieder mal seine Kündigung ein – wie sich später herausstellte, war es diesmal seine endgültige.

Podestá kommt zurück, 1944 singt er alle Vokaltangos. Eine seiner schönsten Aufnahmen (und zugleich seine letzte dieser Periode) ist das wunderbare → Tú ... el cielo y tú (8.11.1944). Danach verlässt er di Sarli und singt bei seinen Freunden Francini und Pontier, die Miguel Caló verlassen hatten, um ein eigenes Orchester zu gründen. Podestá kehrt nur einmal kurz für sechs Aufnahmen 1947 zu di Sarli zurück. 

1945 kommt Jorge Durán, von Emilio Balcarces Orchester abgeworben, zu di Sarli. Während seine früheren Sänger Tenöre waren, singt Durán in der Stimmlage des Baritons. Mit Durán gibt es einige hörenswerte Aufnahmen, wie Hoy al recordarla; Mañana no estarás; Otra vez carnaval; La vida me engañó; → Duelo criollo. Bei diesem Tango bringt Durán die Dramatik des Textes besser rüber als die 52er-Aufnahme mit Pomar). Der Anfang beginnt gleich mit wuchtigen Taktschlägen, die ein Gefühl der Dramatik erzeugen, begleitet von einem delikaten Klavierspiel. Ein erstes Ansteigen der Lautstärke, die bei 0.15 wieder zurück genommen wird - ein gekonntes Spiel mit der Dynamik. Die Bandoneons übernehmen klagend in einem tiefen Register, danach folgt das ganze Orchester, bis es kurz in Stille verharrt, bevor der Sänger einsetzt. Sänger und Orchester bauen ein erstes Crescendo auf, um die Schilderung zu unterstreichen, wie die beiden in der Messerstecherei sterben. ..En duelo criollo vió, bajo su débil luz, morir los dos. Dieser Teil wird noch einmal wiederholt, der Sänger singt die Melodie, während das Orchester darunter die gleichen Akkorde wiederholt bis zum dramatisch gesungenem Schluss.

Ganz die Qualität von Rufino und Podestá hat Durán nicht. 1947 zog er weiter zum Orchester von Pedro Laurenz und kurz danach zu Horacia Salgán.

Die Aufnahmeliste von 1947 und 1948 ist sehr kurz. Was der Grund für die reduzierte Aufnahmetätigkeit im Jahr 1948 sein könnte, ist unbekannt. Duráns Nachfolger Oscar Serpa konnte 1948 gerade mal eine Aufnahme machen (La novia del mar).


Der Stil von Carlos di Sarli

Anstatt viele Worte über die Musik zu verlieren, hören wir lieber in seine Musik hinein. Hier stellt sich gleich ein Problem, das nicht wirklich eines ist: bei di Sarli gibt es so viele hochstehende Kompositionen, so dass man kaum weiss, wo anfangen.

Das Bandoneon ist das Instrument, das am meisten mit dem Tango in Verbindung gebracht wird. Bei den meisten Tango-Orchestern steht das Bandoneon im Zentrum, aber bei di Sarli sind die Violinen im Vordergrund. Sie sind es, die den Klang dominieren. Die gebräuchliche Beziehung zwischen Geigen und Bandoneons ist hier auf den Kopf gestellt, in manchen Stücken sind die Bandoneons kaum zu hören.


Ein Beispiel für die musikalische Entwicklung über die Zeit ist seine eigene Komposition Milonguero viejo, welche di Sarli 1940,1944,1951 und 1955 aufnahm. Milonguero viejo ist eine Hommage an Osvaldo Fresedo, bei dem er seine Lehrjahre verbrachte und sein erstes Orchester leiten durfte. Die Einleitung beginnt mit den Violinen, und die bleiben prominent, abwechselnd legato und staccato spielend. Bei ca. 1.41 verstummt das Orchester und wir hören kurze Zeit nur das Klavier, bevor wieder die Violinen einsetzen und das Thema zum Schluss kommt. Die → 1940er Version kommt für mich etwas hastig daher und ist weniger ausgewogen als die → 1944er Version. Auf dem Notenblatt steht E-Dur, die letzte Aufnahme → 1955 wurde auf fis nach oben transponiert, um heller zu klingen. Interessant ist, dass dieses Stück auch zu Rufinos Repertoire gehörte, jedoch nie mit ihm aufgenommen wurde. Schade.

Die Arrangements sind sich ziemlich ähnlich, di Sarli setzt die Instrumente ein, wie meistens auch, wobei die Violinen mit ihrem Legato- und Staccatospiel dominieren, dazu die typischen di Sarli-Klavierübergänge. Was uns als erstes auffällt, ist die Verlangsamung der Musik – die Version von 1955 kommt deutlich getragener daher als die schneller und dynamischer gespielte Version von 1940. Eine Intensivierung des Klanges können wir ebenfalls feststellen. Di Sarli erreicht das, indem er die Anzahl der Musiker erhöht. 

1944 gibt es einen wichtigen Zugang mit dem Bandoneonisten Federico Scorticati, dem früheren Leiter des → Orquesta Tipica Victor (er bleibt bis 1956 bei di Sarli). Ab Ende 1951 spielen in seinem Orchester sechs Geigen und fünf Bandoneons und erreicht damit einen vollen, intensiven Klang.

Eine andere Möglichkeit des Vergleichs wäre El pollo Ricardo, das 1940, 1946 und 1951 eingespielt wurde, wobei für mich die 1946er Version die reizvollste ist. 

Di Sarli war ein ausgezeichneter Klavierspieler, von vielen seiner Kollegen bewundert. In den frühen 1940er Jahren hören wir mehr von di Sarlis Klavierspiel. Aber selbst von ihm gibt es nur recht wenige Klaviersoli. Eines davon in Mi refugio von 1941, und in → La Cachila von 1941 (mit einem Klaviersolo ab 0.29 und ab 1.44).

In einem weiteren Stück von 1941 hören wir sehr viel von di Sarlis Klavierspiel → Germaine. Achtet auf die Synkopen ab 0.52 im heruntergehenden Klavierspiel und die Passage bei etwa 1.08 – dieser Übergang kommt sehr jazzig daher. Überhaupt ist in diesem Stück di Sarlis Klavierspiel omnipräsent. Bei etwa Minute 2 hören wir wieder einen Übergang, hier begleiten die Bandoneons mit leichten, aber teilweise versetzten Rhythmusschlägen (man muss genau hinhören) den Klavierlauf, der bis 2.18 dauert und wo di Sarli sehr schön das Klavier herunter spielt. Ab 2.28 übernehmen Violinen und Bandoneons wieder in zwei Lagen die Melodie, wobei das Klavier sie umspielt. Die Melodie wird noch einmal wiederholt, bis es zum Schluss-Chan-Chan des Klaviers kommt. In den späteren Versionen dieses Stückes ist di Sarlis Klavierspiel verhaltener.

Bei d‘Arienzo ist das Spiel seiner Pianisten (Biagi, Polito und Salamanca) ein Kennzeichen seines Orchesterklanges – im Orchester von di Sarli ist es der Meister selbst, der am Klavier sitzt und sein Orchester vom Klavier aus führt. Während Biagi, der das Ende der verschiedenen musikalischen Phrasen akzentuiert, verbindet di Sarli in den Übergängen mit glockengleichen Trillern der rechten Hand (manchmal Campanitas - Glöckchen genannt) die musikalischen Teile. 

In den späteren Jahren spielt di Sarli immer weniger Noten. Nur bei den Milongas lässt er es laufen und zeigt sein grosses pianistisches Können, wie z.B. in der → Milonga del sentimiento (1940 mit Rufino).

Di Sarli schrieb den Klavierpart nicht auf, er hatte es nicht nötig, aber er wollte es auch den Leuten nicht leicht machen, seinen Stil zu kopieren. Er soll den Flügel so gestellt haben, dass das Publikum sein Spiel nicht sehen konnte.


In seinen Aufnahmen gibt es kaum Variaciones – ein Merkmal seines gezügelten Stils. Das gebremste, zurückhaltende Bandoneonspiel war ein Grund, warum mancher Bandoneonspieler seine Mühe mit di Sarli hatte und ihn verliess. In di Sarlis gesamtem Aufnahmewerk findet sich lediglich eine Bandoneonvariación  in El choclo (eine Komposition von 1903, die di Sarli kurz hintereinander im April 1954, bei Music Hall, und im Juni nach seiner Rückkehr zu RCA aufnahm. Die RCA-Version ist m. M. die bessere).  

Geigensoli gibt es recht wenige – ein kurzes in Corazón, in Catamarca, in El retirao, in der 1942er-Version von La Cumparsita und eines in der 1945er Aufnahme von → Tinta verde (bei ca. 1.43). Der Tango wurde bereits 1915 komponiert. Die Anekdote geht so: Der Komponist des Tangos, Agustin Bardi, hatte dem Instrumentaltango noch keinen Titel gegeben, als ihn ein Freund fragte, was der Name des Tangos sei, den er mit grüner Tinte geschrieben hatte… Höchst interessant sind die Einspielungen dieses Stückes von anderen Orchestern: Fresedo 1927; d‘Arienzo 1935; Troilo 1938; Demare 1942, di Sarli 1945 und 1954; Roberto Caló 1951. Sie zeigen, mit welch grosser Kreativität die verschiedenen Orchester diese Komposition umgesetzt haben.

Kein anderes Orchester spielte so wenige Soli wie das von di Sarli. Bei Troilo, Pugliese, Laurenz und anderen war die Variación der spannende Höhepunkt fast jeden Stückes, ein unabdingbares Element und die Gelegenheit zu musikalischem Ausdruck. Und trotzdem kommt di Sarli fast ohne aus. Wie schafft er das?

Di Sarli gestaltet den Höhepunkt seiner Tangos mit einem simplen Crescendo. Das ist offenbar für die Hörer musikalisch befriedigend, denn man bemerkt das Fehlen von Soli erst, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird.


Hier ein paar weitere, vielleicht weniger bekannte Hörbeispiele und Höhepunkte aus der mittleren Periode

‍      → Decime que pasó Sag mir, was los ist,1942 mit Rufino

‍      → La viruta 1943 (Holz- oder Sägespäne, aber auch ein Lunfardo-Ausdruck für Geld). Der Tango beginnt mit einem Abwärtslauf von 7 Noten, darunter legt di Sarli zwei Klavierglissandi, einmal hinauf, dann gleich wieder hinab. Diese Glissandi hören wir später wieder. Bei 1.36 ein Übergang (zum C-Teil) mit ungewöhnlichen Klängen. Bei 1.55 übernehmen die Bandoneons, während im Hintergrund die Geigen pizzicato spielen. Nachdem das Thema wieder aufgenommen wird, hören wir die Geigen mit herrlichem Geigenklang in zwei Lagen und gestrichenem Bass (ab etwa 2.13), bevor es zu einem recht beherrschten Schluss kommt. Für mich ein sehr schöner Tango mit einigen Feinheiten und Überraschungen. (auf YT leider nur in mangelhafter Qualität vorhanden – ich empfehle die Version von TangoTunes – es lohnt sich). Erhellend auch der Vergleich zur 1936er Version von → J. d‘Arienzo – di Sarlis Version kommt mit einem anderen Charakter daher und ist mit ihren Feinheiten komplexer als die vorwiegend rhythmisch orientierte d‘Arienzo-Interpretation. Auch die 1957er Version von Fresedo kann in Sachen Musikalität nicht mithalten.

→ La Racha  1947 (instrumental) Dieses Stück wurde u.a. von Demare, Lomuto, d‘Arienzo, Troilo u.a. aufgenommen. Für mich ist seine Interpretation klar die beste.


In den 40ern gab es noch ein Gleichgewicht zwischen 4 Bandoneons und 4 Geigen, in den späteren Jahren setzte di Sarli mehr Geigen als Bandoneons in seinem Orchester ein. In den letzten beiden Jahren waren es 8 (!) Violinen und 5 Bandoneons. Damit traten auch Bass und Klavier mehr in den Hintergrund. Ein anderes Charakteristikum: di Sarlis Tangos wurden immer langsamer. Vielleicht besteht da eine Parallele zwischen Tango und Jazz: auch der Jazz wurde nach dem Krieg, als ob die Leute nach der Hektik dieser schlimmen Zeit sich nach mehr Ruhe sehnten, langsamer und langsamer.



Auflösung des Orchesters 1949 – Neuanfang 1951

Dass di Sarli nicht gerade ein einfacher Mensch war, hatte sich wiederholt gezeigt. Neben seinen positiven Seiten gab es auch schwierige Eigenarten. Wiederholt zeigte er sich als unnahbar und eigensinnig. Er war ein introvertierter Perfektionist, der viel von seinen Musikern abverlangte. 1948 hatte sein langer, treuer Weggefährte und erster Bandoneonist Felix Verdi genug und kündigte nach einem Streit. Ersatz war Leopoldo Federico. Der bewunderte zwar den Maestro: »Warum es sich so gut anhört, ist das grösste Rätsel meines Lebens. Was di Sarli am Klavier tat, versetzte mich in Staunen«, aber trotzdem hatte er bald genug und verliess das Orchester.

Kurz darauf verlangten di Sarlis Musiker von ihm zusätzlichen Feiertagslohn und Rentenvorsorge. Di Sarli wollte davon nichts hören, er erfüllte noch seinen Vertrag für die Karnevalsbälle 1949 und löste dann kurzerhand das Orchester auf. Ging es wirklich nur um das Geld? Die Vermutung liegt nahe, dass es schon länger schwelende Konflikte gab. Di Sarli zog sich von der Bühne in sein Haus zurück.


Im Januar 1951 wurde er von Radio El Mundo überredet, auf die Bühne zurückzukehren. Di Sarli gründete ein neues Orchester mit 5 Bandoneons und 5 Violinen, wobei auch mancher Musiker des früheren Orchesters dabei war, wie sein alter Weggefährte Felix Verdi und Federico Scorticati. Di Sarli konnte im Radio wiederholt über sein Comeback sprechen. Am 16. März 1951 gab es dann bei Radio El Mundo die breit beworbene Sendung »Bienvenida a Carlos di Sarli«. Kurz darauf folgte das Debüt vor Tanzpublikum beim Fussballverein River Plate. Di Sarlis Anziehungskraft war ungebrochen, der Saal war voller Tänzer.


Das Duopol von Odeon und RCA Victor war zu dieser Zeit aufgebrochen, neue Schallplattenfirmen waren entstanden. Di Sarli entschied sich für den neuen Musikverlag Music Hall, unter anderem auch wegen der Möglichkeit mit der neuen Tonbandtechnik und dem neuen Medium der Vinylplatte. Ursprünglich sollten die Platten in den Vereinigten Staaten hergestellt werden, wurden dann aber in Peru gepresst. Man erzählt sich, dass manche Tontechniker bei RCA nicht unglücklich waren, den fordernden Perfektionisten los zu sein – kaum ein anderer Orchesterleiter hatte so oft darauf bestanden, mehrere Versionen des gleichen Stückes einzuspielen.

Für seine ersten Aufnahmen bei Music Hall wählte di Sarli 20 seiner grössten Hits aus. Darunter war kein einzige neue Komposition – dies ganz im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, wie zum Beispiel Troilo. Unter diesen Aufnahmen ist nur die Vokalnummer Nido gaucho mit Mario Pomar (früher unter dem Namen Mario Corrales bekannt und von di Sarli zu Pomar umgetauft). 1952 kommt als zweiter Sänger Oscar Serpa hinzu.

Der Wechsel zum neuen Medium der Vinylplatte war nicht unproblematisch. Auch wenn Music Hall dabei an den Export dachte, wollte es doch auch auf dem Binnenmarkt verkaufen. Jedoch hatten viele Leute noch die alten Abspielgeräte und nicht das Geld, um neue Plattenspieler mit den neuen Geschwindigkeiten von 45 und 33⅓ Umdrehungen/min zu kaufen. Music Hall behalf sich damit, ab Ende 1952 78er Vinylplatten, später auch 78er Schellackplatten zu produzieren, wobei die Qualität der Schellackplatten nicht so gut war wie bei der Konkurrenz. Insgesamt ein grosser Aufwand mit den verschiedenen Formaten – vermutlich auch das ein Grund für die spätere Insolvenz von Music Hall.

Di Sarli nahm bei Music Hall 84 Stücke auf. Dass er nicht wirklich zufrieden war mit der Arbeit von Music Hall, zeigt sich daran, dass er mehr als 25 Titel nach seiner Rückkehr zu RCA nochmal aufnahm! Wenn man die Aufnahmen eines seiner grössten Hits, → Verdemar (Grünes Meer) miteinander vergleicht, so hat die 1955er Version (bei RCA aufgenommen) die bessere Klangqualität (und ist m.M. auch musikalisch die bessere) als die 54er-Aufnahme bei MH. Die lange Zeit nur in begrenzter Auswahl erhältlichen und recht mangelhaft auf CD überspielten Aufnahmen von Music Hall sind mittlerweile vollständig und in guter Qualität bei TangoTunes erhältlich.  (Über di Sarlis Zeit bei Music Hall siehe: http://jens-ingo.all2all.org/archives/2776)

RCA presste in der Zwischenzeit neue Auflagen der früheren di Sarli-Aufnahmen auf 78er Shelllacks. Als 1954 RCA-Victor die neue Tonbandtechnik einführte, wechselte di Sarli zurück zu dieser Firma. Dort machte er bis 1958 noch einmal 79 Aufnahmen, die Sänger waren die bereits erwähnten Oscar Serpa und Mario Pomar, ab 1956 sind es Roberto Florio und Jorge Durán. Di Sarli liess die beiden letzteren sogar zusammen singen, obwohl die beiden Stimmen nicht zusammenpassen. Kurzzeitig durften auch Argentino Ledesma (3x), Rodolfo Galé (2x) und Horacio Casares aufnehmen.


Anfangs 1956 kam es noch einmal zum grossen Musiker-Exodus – fast alle Musiker verliessen di Sarli. Die Ex-Musiker bildeten ein eigenes Ensemble mit dem Namen ›Los Señores del Tango‹ in bewusster Anspielung auf ihren bisherigen Arbeitgeber. 

Di Sarli wollte jedoch seinen Vertrag zu erfüllen, er und sein Orchester waren gebucht für die Karnevalstänze im Klub San Lorenzo de Almagro, und bis dahin blieb ihm nur eine äusserst kurze Zeit. Di Sarli gab sich unbesorgt und witzelte: »Wir haben doch noch den Pianisten!« Zwei Musiker des alten Orchesters waren ihm noch geblieben, dazu rekrutierte er ›Los Principes del Violin‹, zu denen auch einer der besten Geiger, Elvino Vardaro, gehörte. In dem neu aufgestellten Orchester spielten insgesamt 6 Violinen und 5 Bandoneons, was einen äusserst satten Klang ergab. Irgendwie hatte di Sarli das unmöglich Scheinende innert kürzester Zeit geschafft.


Die letzten Aufnahmen

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre liess das Interesse am Tango nach, es gab weniger Auftrittsmöglichkeiten und weniger Tänzer. Ende 1958 zerstritt sich di Sarli mit RCA-Victor. Dort gab es einen neuen Schallplattenverantwortlichen, dessen Aufgabe es war zu entscheiden, ob eine Platte gut genug war, um veröffentlicht zu werden. Das war bis anhin das Vorrecht di Sarlis. Diese Person hörte sich eine Aufnahme an, entdeckte einen kleinen Mangel und bat di Sarli, das Stück noch einmal aufzunehmen. Dieser rastete aus: »Was erlauben Sie sich, mich zu verbessern!«, verliess auf der Stelle das Gebäude und kehrte nicht mehr zurück.

1958 kehrten ein paar der Musiker der ›Señores del Tango‹ zu ihm zurück, was zur luxuriösen Besetzung mit acht (!) Violinen und fünf Bandoneons führt.

Die Firma Philips-Polygram war in diesem Jahr nach Buenos Aires gekommen, und di Sarli wechselte zu Philips, wo er 14 Aufnahmen machte. Diese wurden auf einer 33er LP veröffentlicht, aber gleichzeitig produzierte Philips auch sieben 78er Schellackplatten. Die Klangqualität der LP ist gut und zeigt, abgesehen vom neuartigen Stereo-Verfahren, den grösseren Frequenzumfang der neuen Technik. Die 14 Aufnahmen hinterlassen bei mir trotzdem einen zwiespältigen Eindruck: die Mehrmikrofontechnik lässt die Tiefenstaffelung des Orchesters vermissen, und anscheinend wurde mit der Rechts-Links-Balance gespielt. Leider wurde auch Hall dazugemischt, die Sänger stehen zu dicht am Mikrofon und sind nicht mehr Teil des Orchesterklangs. Das lag auch daran, dass der Gesang separat aufgenommen wurde. Apropos Sänger: Duran und Casares singen m. M. übertrieben und schmalzig (ich weiss, das ist Geschmackssache, aber ich verspreche, ich werde nie eine Tanda mit diesen Gesangsnummern auflegen). Eigentlich kann ich nur die Instrumentaltitel dieser Aufnahmereihe empfehlen.

Philips nahm den Gesang separat auf, und so kam es, dass Philips, man vermutet aus Geldmacherei, nach dem Tod von di Sarli die Stimme von Edmundo Rivero zu manchen Stücken dazumixte, was aber bei der Tangogemeinschaft nicht gut ankam. (siehe ›Carlos di Sarli - Sello Philips Vol. 16‹)

Die Philips-Aufnahmen unterscheiden sich im Arrangement nicht gross von den früheren bei RCA. Jedoch lohnen sich vor allem die Instrumentalaufnahmen wegen der guten Aufnahmequalität. Hörenswert auf jeden Fall der schöne, aber wenig bekannte Tango → El abrojo (die Distel), der von keinem anderen Orchester aufgenommen wurde. Und quasi als krönender Abschluss sein Meisterwerk als Hommage an seinen Geburtsort → Bahia blanca (Weisse Bucht) von 1958 mit dem genialen Streicherfinale. Hier zum Vergleich seine ebenfalls grossartige Einspielung bei RCA-Victor von 1957, die mir in der Interpretation noch eine Spur besser gefällt. Man spürt förmlich die Wellen sanft an den Strand schlagen.


In den späten 1950er Jahren wurde bei di Sarli Krebs diagnostiziert, was ihn dazu zwang, seinen Rückzug von den musikalischen Aktivitäten zu planen. Jedoch war er entschlossen, seinen Vertrag zu erfüllen und bei den Karnevalsbällen im Februar zu spielen. Obwohl er am ersten Tag erfrischt und erholt aussah, konnte man bereits in der zweiten Nacht erkennen, dass seine Krankheit ihm Schmerzen bereitete. 

Eigensinnig wie er war, wollte er all seine Verträge erfühlen. Obwohl sein Bruder Roque ihn anflehte, abzusagen und zu Hause zu bleiben, spielte er an zwei Veranstaltungen am 7. und 8. März 1959. Es ging ihm nicht nur darum, sein Wort zu halten, sondern er dachte auch an die finanziellen Einbussen, die die Clubs sonst hätten hinnehmen müssen. Als hätten die Leute gespürt, dass es einer der letzten Auftritte sein könnte, standen viele Leute dicht gedrängt direkt an der Bühne ohne zu tanzen.

Carlos di Sarli starb am 12. Januar 1960 in seinem Haus, wenige Tage nach seinem 57. Geburtstag. Am Tag seines Todes hing vor einem bekannten Tango-Café in der Calle Corrientes ein Plakat. Dort konnte man lesen: »Heute geschlossen – der Tango ist in Trauer. Carlos di Sarli ist gestorben.«


Osvaldo Pugliese war ein grosser Bewunderer von di Sarli, besonders der Art, wie er Klavier spielte. Als di Sarli starb, sagte er: »Er hat alle Geheimnisse mit sich genommen, und keiner wird ihn nachahmen können.« Auch Troilo bewunderte di Sarli und bedauerte, dass er seine Geheimnisse mit ins Grab genommen hatte.


»Als ich 1956 Mitglied seines Orchesters wurde, erkannte ich, dass das, was einfach anmutete, schwierig zu interpretieren war. Er zielte auf eine Nuance ab, die einfach klang, sich aber als schwierig herausstellte.

Heute erstaunt es mich, mit was für einfachen Mitteln er einen solch lieblichen Klang aus seinem Orchester herausgeholt hat.«

Juan Plaza, Bandoneonspieler im Orchester



Eine kurze Zusammenfassung

Ein klarer Taktschlag, der es den Tänzern leicht macht, im Takt zu bleiben.

Di Sarlis Art des Klavierspiels: kurze glockengleiche Triller der rechten Hand, die die Phrasen verbinden, dazu das Spiel der linken Hand als wichtiger Teil des Rhythmusgeschehens und des stetigen Taktes.

Die bezaubernde Verbindung von Bandoneon- und Violinenklang. Ein lyrisch-romantischer Stil mit dem Klang der Violinen im Vordergrund, die Bandoneons sind manchmal kaum zu hören. Solos sind äusserst selten.

Die Musik entwickelt sich auf hohem Niveau über den Lauf der Jahre, die Musik wird weicher und nuancierter, der Rhythmus subtiler und langsamer, der Klang wird voller. Di Sarli verliert dabei (im Gegensatz zu manch anderen Orchestern) die Tanzbarkeit nie aus den Augen.

Wenn die Musik Dich an die ersten Stunden im Tangounterricht erinnert, ist es vermutlich di Sarli…


Bailemos Tango ! 


‍      Tango-DJ Michael KI                           © Januar 2021  letzte Nachführung 12/2021




Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen

zusätzlich: – Discographie: www.el-recodo.com/music?O=Carlos%20DI%20SARLI&lang=de

‍                    – www.el-recodo.com/carlosdisarli-en?lang=en

‍                    – www.todotango.com/english/artists/biography/36/Carlos-Di-Sarli/

‍                    – www.todotango.com/english/history/chronicle/437/Orquesta-Tipica-Carlos-Di-Sarli/

‍                    – https://en.wikipedia.org/wiki/Carlos_di_Sarli

Nach dem Motto ‘Wer bietet mehr?‘ werden Fresedo fünf gleichzeitige Orchester nachgesagt, an anderer Stelle werden sogar sechs erwähnt…  Die Zahl von vier Orchestern scheint am plausibelsten.